Der verwaiste Thron 03 - Rache
versuchte uns zu befreien, aber ich war zu schwach. Meine Gedanken allein reichten nicht aus, weil ich zu viele gleichzeitig beeinflussen musste, weil ich meine Stärke überschätzt hatte. Sie saugten den Sand aus mir heraus wie Ungeziefer das Blut. Ich wurde so schwach, dass ich meinen Herzschlag nicht mehr hörte. Ich stürzte ins Wasser und sank immer tiefer. Meine Lunge füllte sich mit Wasser. Ich atmete nicht mehr. Es ist seltsam, wie ruhig der Körper im Tod wird. All die Geräusche, die einen ein Leben lang begleitet haben – das Klopfen des Herzens, das Rauschen des Bluts, das Säuseln des Atems –, verstummen. Nur die Stille bleibt und die letzten, verwehenden Gedanken.
Diejenigen, die von meinen Dienern zu Feinden geworden waren, sprangen mir nach. Mein Ertrinken reichte ihnen wohl nicht. Einer von ihnen griff nach meiner Schulter und riss mich herum. Die Reste des schwarzen Sands in mir bewegten meine Hand, legten sie auf die Brust des Mannes und drückten meine Finger in sein Fleisch. Der Mann ließ mich los, aber es war zu spät. Nur eine leere Hülle blieb von ihm zurück.
Ich kann mich an das, was als Nächstes geschah, kaum noch erinnern. Ich sehe mich durch den Fluss schwimmen, Menschen in einer Hütte töten, in einem Wald, auf einem Pfad. Da war ein Mann auf einem kleinen Pferd, den ich in Ruhe ließ, weil er nach Wahnsinn stank. Ich war hungrig, so hungrig. Ich aß Erde am Ufer des Großen Flusses, aber sie stillte den Hunger nicht.
Irgendwann begriff ich, dass ich tot war.
Ich glaube, ich weinte oder lachte. Es fällt mir immer schwerer, diese Dinge zu unterscheiden. Vielleicht tat ich beides.
Irgendwann traf ich auf die Miliz, die Nachtschatten in den Wäldern jagte. Sie sahen mich nur, wenn ich es wollte, und ich konnte sie um etwas bitten, fast so wie früher. Als ich dir begegnete, hatte ich bereits erkannt, dass ich Leben brauchte, um selbst zu überleben. Du warst das zweite große Geschenk auf meiner Reise. Gemeinsam werden wir gegen Westfall anstürmen, bis Menschen und Nachtschatten am Boden liegen, bis das Gesicht am Fenster erkennt, dass ich sein treuester Diener bin, und mir den Hunger nimmt, der mich verzehrt.
»Dies ist meine Geschichte«, flüsterte Daneel. Mit angezogenen Knien hockte er neben dem Fell, auf dem Schwarzklaue unruhig schlief.
Es war der achte Tag der Belagerung.
Kapitel 1
Der achtzehnte Fürst von Westfall, Laderick der Tumbe erließ ein Gesetz, das seinem Volk bei Todesstrafe verbot, etwas Schlechtes über ihn zu sagen. Bis zu seinem Tod nannte man Westfall hinter vorgehaltener Hand die »Stadt der Stille«.
Jonaddyn Flerr, Die Fürstentümer und Provinzen der vier Königreiche, Band 2
»Alles raus! Es geht wieder los!«
Jonan schlug die Decke zurück und griff nach seinem Schwert, noch bevor er die Augen öffnete. Das rötliche Licht des Sonnenuntergangs fiel durch schmale Fenster in den provisorisch eingerichteten Schlafsaal. Seit Beginn der Belagerung schliefen die Wachsoldaten in Sälen unterhalb der Türme. Das verkürzte die Wege.
Jonan hatte sich freiwillig für den gefährlichen Nachtdienst am Haupttor gemeldet. Die meisten Angriffe der Nachtschatten fanden dort statt, und die Zauber der Magier unterschieden nicht zwischen Mensch und Nachtschatten.
Noch nicht , dachte Jonan, während er sich das Schwert umschnallte und mit rund hundert anderen Wachsoldaten auf den Ausgang zulief. Ständig hörte er Gerüchte, dass die Magier an einem Zauber arbeiteten, der Nachtschatten, die sich in ihrer menschlichen Gestalt verbargen, enttarnen würde. Das war der Grund, weshalb Jonan sich für den Dienst am Tor gemeldet hatte. Nur eine Mauer trennte ihn dort von der Freiheit und der Suche nach Ana.
Er sorgte sich um sie mehr als um sich selbst. Nur kurz hatte er sie in Srzanizar gesehen, als die Nachtschatten die Stadt angezündet hatten und ihre Einwohner in Booten und auf Schiffen geflohen waren. Jonan wusste, dass Ana auf eines der Schiffe gekommen war, mehr jedoch nicht. Er hatte angenommen, dass sie versuchen würde, sich nach Westfall durchzuschlagen. Es war der einzige Ort, der ihr noch blieb. Doch sie war nie in der Festung angekommen.
Ein Teil von ihm war erleichtert, dass sie nicht von den Nachtschatten belagert wurde, doch ein anderer, weitaus größerer Teil fragte sich, was stattdessen mit ihr geschehen war.
»Weiße Armbinden nach oben, schwarze nach unten!«, brüllte Sergeant Mornys, ein älterer Mann mit langem Kinnbart,
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