Der Wachsmann
folgerichtig auch ihn um. Weil aber der Pfleger zuvor Streit mit dem Leonhart hatte, fällt der Verdacht ganz leicht auf ihn. Dummerweise – aus der Sicht des Mörders natürlich – kommt er bald wieder frei und dummerweise – jetzt aus der Sicht des Leonhart – prahlt dieser, daß er irgendwas gesehen oder gehört habe. Der Mörder kann also gar nicht anders, als ihn umzubringen. Und weil er beim ersten Mord einen Psalm benutzte, um den Selbstmord zu bekräftigen, setzt er das Spielchen von Mord zu Mord einfach fort in der Absicht, uns zu verwirren.«
Der Richter war beeindruckt, nickte anerkennend und pflichtete bei: »Das hört sich überaus schlüssig an.«
Paul konnte einen Anflug von Stolz nicht verbergen. Zum ersten Mal hatte der Richter etwas Erfreuliches über ihn gesagt.
Doch Konrad Diener ging nun unvermittelt zum rückwärtigen Kasten, holte den geheimnisvollen Wachsmann heraus, legte ihn mitten auf den Tisch und fragte neugierig: »Und wie erklärt Ihr dann dies?«
Peter trat näher an den Tisch heran und besah sich die Wachsfigur genauer. Er strich mit dem Finger behutsam über deren Leib und fuhr, wie um sich zu vergewissern, ein großes L nach, das in den Wachskörper geritzt war.
»Seltsam! Es paßt alles«, bemerkte er gedankenverloren. »Als ob jede Einzelheit vorbereitet wäre. Es mag ein Spiel sein, aber mit einer schrecklichen Inszenierung: Die Opfer sind die bedauernswerten Helden, der Mörder ist der Gehörnte, und wir sind die armen Narren.«
»Willst du damit sagen, daß es sich nicht so verhält, wie ich angenommen habe?« fragte Paul fast ein wenig beleidigt.
»Keineswegs«, beschwichtigte Peter, »doch ich werde das Gefühl nicht los, daß die Morde zwar folgerichtig, aber auch nach einem übergeordneten System erfolgen.« Er hatte seine Aufmerksamkeit schon wieder auf den Atzmann gerichtet. »Seht doch! In Höhe der Lenden sind noch zwei Löcher.«
»Du meinst, es könnten ursprünglich fünf Nägel gewesen sein?« fragte Paul erstaunt.
»Möglich. Hat man denn weitere Nägel gefunden?« Die Frage war an Konrad Diener gerichtet, der ein wenig skeptisch blickte.
»Meines Wissens nicht, und außerdem war es stockdunkel. Aber ich kann ja danach suchen lassen.«
»Es könnte doch so etwas wie ein Zeichen sein, ein Symbol für etwas«, spann Peter seine Überlegung weiter. »Wir begegnen der Fünfzahl ziemlich häufig. Denkt nur an die Finger Eurer Hand oder Eure fünf Sinne, an die fünf Bücher Moses und die fünf Talente…«
»An die Wundmale unseres Herrn«, fügte Paul stolz hinzu.
»Schön und gut!« bremste der Richter leicht unwillig den Einfallsreichtum der beiden. »Und was soll das Ganze?«
Er fürchtete nämlich, bei dieser Art von Gedankenspielen im Meer der Ungewißheit zu ersaufen oder mindestens am seichten Ufer der Spekulation zu stranden. Er war es gewohnt, sich an Tatsachen zu halten und suchte daher das Gespräch wieder in konkretere Bahnen zu lenken.
»Wie ich Euch unlängst schon sagte«, begann Peter entschlossen, »sehen einige Gelehrte in David ein Symbol für unseren Heiland, und viele seiner Sprüche und Verse weisen in prophetischer Weise auf ihn voraus. So verhält es sich auch mit diesem Psalm. Nehmt nur die Stelle: Sie gaben mir Galle zur Speise, und in meinem Durste tränkten sie mich mit Essig. So geschah es dem Herrn, und Ihr könnt dies im heiligen Evangelium nachlesen. Prior Konrad wies mich aber auch eindringlich darauf hin, daß die Verfluchungen des Psalms eigentlich Weissagungen sind, die auf die Strafgerichte hindeuteten, die über das Volk der Hebräer hereinbrächen, weil sie den Messias verkannt und ermordet hätten. Und der Prior glaubt sich im Zusammenhang mit dem erneuten Mord in seiner Befürchtung bestätigt, daß den Juden möglicherweise großes Unheil drohe.«
»Soso«, bemerkte der Richter lakonisch, »der Herr Prior sieht sich bestätigt.«
»Ehrlich gesagt«, ließ sich Paul vernehmen, »erscheint mir der ganze Zauber mit den Psalmen nach wie vor wie ein albernes Verwirrspiel, und der Hokuspokus mit der Wachspuppe paßt prächtig dazu. Oder ist Euch vielleicht schon einmal so etwas untergekommen?«
Fast schien Paul nach einer erneuten freundlichen Bestätigung des Richters zu heischen.
»Allerdings«, bejahte der, »zwar nicht direkt, aber ich habe viel davon gehört, und das war nichts Gutes. Aus dem südlichen Frankreich sind mir einige Fälle bekannt, und es heißt, der Papst gehe wie ein Besessener dagegen vor.
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