Der Wachsmann
Morgengrauen abzulegen. Wenn alles gutging, dann könnten sie morgen schon den größten Teil der Strecke zurücklegen. Und Jakob war jetzt überzeugt, daß alles gutgehen würde.
In der Morgendämmerung, kaum daß sich Umrisse und Schatten zu Gestalten aus Fleisch und Blut und zu lebendigen Bildern verdichteten, erschien Roland bei der Lände, gut gelaunt und ganz offensichtlich berstend vor Tatendrang. Sie teilten sich rasch ein Stück Brot und einen Krug frisches Wasser und stiegen dann unverzüglich aufs Floß, wo Jakob während des Ablegens noch ein kurzes Stoßgebet an Sankt Christophorus richtete. Man wußte, wer morgens sein Bild ansah oder seiner gedachte, der war für diesen Tag geschützt vor plötzlichem Tod, durch den der Sünder ohne Reue und Sakrament vor den Schöpfer berufen wurde. Langsam nahm der hölzerne Koloß Fahrt auf, unterstützt vom Ländhüter, der mit dem langen Flößerhaken das Gefährt vom Ufer wegdrückte.
»Auf geht’s Roland!« rief Jakob dem Styrer zu, »und daß du mir nicht fluchst und ins Wasser spuckst!« Die freundliche Ermahnung war nicht ganz ernst gemeint, aber im Zunftrecht wurde immerhin gefordert, daß bei Fluchen und gotteslästerlichen Reden fünf Pfennige in die Zunftbüchse zu entrichten seien. Und mit dem Spucken gefährdete man in erster Linie sich selbst, denn mit der Spucke, so hieß es, schwimme die Gesundheit davon.
Kaum war das Floß aus dem noch ruhigeren Wasser an der Lände in den Hauptstrom gedriftet, als der Fluß auch schon gehörig schob, so als wollte er diese unerbetene Last sofort wieder los sein und sie entweder augenblicklich zurück ans Ufer werfen oder möglichst rasch an Schwester Isar weiterreichen, um sich danach aufs neue selbstverliebt dem Tanz der eigenen Wellen und Wirbel hingeben zu können. Aber Jakob war nicht gewillt klein beizugeben und dem Fluß seinen Willen zu lassen. Als Floßmeister und verantwortlicher Ferg stand er am vorderen Ruder, wo er mit geübtem Blick jedwedes Hindernis erkennen und möglichst rasch darauf reagieren mußte. Die eigentliche Fahrrinne war kaum mehr auszumachen, weil der Fluß schon zu beiden Seiten an der Uferböschung nagte. So konnte manch spitzer Fels, der nur am zarten Kräuseln oder einem leichten Wirbel an der Wasseroberfläche zu erahnen war, zum tödlichen Verhängnis werden, wenn seine scharfen Kanten die Weidenstricke zerfetzten und das Floß der Länge nach auseinanderriß. Aber Jakob hatte Erfahrung und Geschick genug, die rechte Linie zu finden. Er rief seine Kommandos nach hinten, und der Styrer setzte das Ruderblatt seinen Anweisungen entsprechend. Die Verständigung klappte gut, als hätten sie schon viele Fahrten gemeinsam durchgeführt, was Jakob sehr beruhigte.
Sie flogen an den Burgen und Dörfern des Loisachtales vorbei. Wenn sie Stromschnellen und Wirbel durchpflügten, spritzte die Gischt hoch auf und rollte über die Balken. Im ganzen aber verlief die Fahrt ruhig, und noch ehe die vierte Stunde des Tages zu Ende ging, folgten sie schon dem großen Bogen, den der Fluß wie eine Verbeugung vor dem Kochelsee vollführte, bevor er in diesen einmündete. Ihre rasche Fahrt wurde nun erheblich abgebremst, und sie mußten sich mächtig ins Zeug legen, denn der See wollte durchrudert sein, und bald ächzten die Männer mit dem Knirschen der Rudersäulen um die Wette. An der Nordostseite des Sees drängte die Loisach wieder in die Ebene hinaus. Aber sie tat dies etwas wirr und vielarmig, so daß es jedesmal einem kleinen Abenteuer gleichkam, auf Anhieb den Hauptstrom zu erwischen. Doch danach schien der Fluß ein gutes Stück erwachsener geworden zu sein, und sein Lauf nach Norden erfolgte merklich ruhiger.
Der Himmel zeigte sich jetzt von seiner besten Seite. Nur mehr vereinzelt taumelten kleine, weiße Wölkchen wie schwebende Federbällchen vor dem strahlenden Blau. Die Menschen jener Tage liebten das Farbenspiel und prachtvolle Inszenierungen. So nimmt es nicht wunder, daß die mächtigen Grafen von Bogen dieses majestätische Bild als weiß-blaue Wecken in ihr Wappen aufgenommen hatten und daß es die Wittelsbacher, als sie das aussterbende Geschlecht der Grafen beerbten, gerne übernahmen.
Wenig später legte sich ein bewaldeter Höhenrücken quer, den die Loisach in einer mächtigen Kehre umfloß. Die Stelle war mit größter Vorsicht und Wachsamkeit zu befahren, zum einen wegen der scharfen Biegung und den unterschiedlichen Strömungen, zum anderen wegen der
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