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Der Wachsmann

Der Wachsmann

Titel: Der Wachsmann Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Rötzer
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Mortbeten, daß man den Fluchpsalm ein Jahr und neun Tage lang regelmäßig aufsagt. Deshalb habt Ihr auch kein Wort mit Eurem Bruder gesprochen, weder damals bei der Gerichtsverhandlung noch sonst und nicht einmal, als er verletzt von Augsburg zurückkehrte. Ich hatte dies erst fälschlich als Indiz dafür genommen, wie sehr Euer Bruder unter Euch zu leiden hatte. Dies also mußtet Ihr tun, und dies war auch des Gottschalks Aufgabe neben der wiederholten Feier einer Totenmesse, während der der Wachsmann auf dem Altar lag.
    Dieses seltsame Treiben, zumal in Verbindung mit des Pfaffen sonstigem Verhalten, konnte auf die Dauer natürlich nicht verborgen bleiben. Die frommen Schwestern, die als Terziaren ja der Regel und Aufsicht der Franziskanermönche unterstehen, brachten daher ihre Klagen beim Kloster vor, nachdem Ihr offenbar nicht gewillt schient, Eurem Meßpfaffen Einhalt zu gebieten. Deshalb hat Bruder Servatius schon vor Wochen den Gottschalk bei seinem nächtlichen Treiben beobachtet und ihm ein wenig auf die Finger geschaut. Auf diese Weise hat ihn auch mein Freund Paul kennengelernt, aber das ist hier nicht von Bedeutung. Wichtig ist vielmehr: Wie kam es zu solch gräßlichem Fluch wider Euren Bruder? Auch hier, verehrter Heinrich Pütrich, bin ich ohne Eure Mithilfe auf Vermutungen angewiesen, aber sagt’s mir, wenn ich Euch Unrecht tue.«
    »Als käme es darauf noch an«, bemerkte der Alte höhnisch. »Wir können’s kurz machen: Sie ist eine dreckige Hure und er ein schleimig geiler Bock. Sie haben Unzucht und Ehebruch getrieben und… «
    »… Ihr wolltet Ihn dafür bestrafen und zwar auf widerliche und teuflische Weise«, unterbrach ihn Servatius erbost. »Welch eine Anmaßung und perverse, gotteslästerliche Form von Gerechtigkeit!«
    »Was wißt Ihr schon davon?« fragte der alte Pütrich angriffslustig und schien immer mehr aus seinem Dämmerzustand zu erwachen. »Ihr forschen Brüder, die Ihr rasch verurteilt, sprecht von etwas, wovon Ihr entweder keine Ahnung habt oder selbst in widernatürlicher Weise Gebrauch macht. Ihr tötet die Natur ab und kasteit zugleich das Fleisch, bis Ihr auf diese Weise vor Lust grunzt und sabbert. Oder Ihr bekennt Euch heimlich zur Wollust und reibt einander wie Diebe in dunklen Ecken den Liebessaft aus dem Gemächt oder spritzt den Samen in den Arsch Eurer Buhlschaft. Euch heuchlerischen Brüdern steht es nicht an, darüber zu richten!«
    Heinrich Pütrich schnaufte eine Weile heftig erregt, ehe er sich wieder beruhigte, doch keiner sprach in die beklemmende Stille hinein ein Wort. So fuhr er selbst mit matter Stimme fort: »Ihr Jüngeren wißt nicht, wie es ist, wenn das Leben welkt und Kraft und Daseinsfreude schwinden. Zu viele sah ich allzufrüh ins Grab hinsinken, so meinen ersten Sohn Heinrich, der mein ganzer Stolz war, und meine beiden Frauen, die mir viel bedeuteten.
    Trauer erfüllte mein Herz, und Trübsinn umnachtete zeitweilig meinen Geist, und es währte nicht lange, bis auch mein Lebenswerk gefährdet schien; denn mein zweiter Sohn Ludwig, obwohl vielversprechend in seinen Anlagen, war noch zu jung, um die ganze Last zu tragen, und mein feiner Bruder stellte seinerseits eher Belastung als echte Hilfe dar. Er hat sich wahrlich nicht besonders für den Handel interessiert, und die Tradition unseres Hauses und der Zusammenhalt unserer Familie haben ihm nie wirklich etwas bedeutet. Er war allezeit nichts weiter als ein Taugenichts.«
    Ludwig Pütrich wollte wütend aufbegehren, aber der Alte herrschte ihn mit aller noch zu Gebote stehender Autorität an: »Schweig!«
    Während sich Ludwig mit hochrotem Kopf die Entgegnung verkniff, richtete der Alte sich auf, als wolle er sich endlich alles von der Seele reden. Er wandte sich Birgit Pütrich zu, die sich schon vor geraumer Zeit an die Seite ihres Vaters geflüchtet hatte, sah sie mit feuchtglänzenden Augen an, und seine Stimme zitterte: »Ich hatte bereits mit dieser Welt gebrochen und erwartete nichts mehr vom Leben, da erblickte ich eines Tages dieses Mädchen. Oh, ich sah sie natürlich auch früher schon, da sie ja im Haus gegenüber ein und aus ging. Aber an diesem Tag sah ich sie zum ersten Mal mit anderen Augen an, denn sie war zur Frau erblüht. Sie war wunderschön und erweckte in mir Gefühle und Verlangen, die ich längst abgestorben glaubte. Ich hielt um ihre Hand an. Durch sie gab ich mich der trügerischen Hoffnung hin, ich könnte die Kräfte der Jugend wieder verspüren und noch eine

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