Der Wachsmann
Vortags abzulesen. Er hielt sich den Brummschädel, grinste Peter entwaffnend an und befahl sarkastisch: »Auf, laß uns den Jakob retten!« Paul wußte für sich längst, daß dazu selbst eine Armee tüchtigerer Helfer nicht ausgereicht hätte.
Sie hetzten zum Rathaus, gingen am Stadtbach noch rasch einem dringenden Bedürfnis nach und sprangen daraufhin erleichtert die Stufen hoch, als der Ratsdiener gerade anhub, die Pforten zu schließen. Er rümpfte die Nase, geleitete sie wortlos in den großen Sitzungssaal und dort zu Peters Leidwesen auch noch ganz nach vorne. Es schien so, als habe man nur noch auf die beiden pflichtvergessenen Pfleger gewartet, und aller Augen waren auf sie gerichtet. Peter flehte insgeheim, daß sich die hölzernen Dielen auftun und der Boden ihn verschlingen möge. Doch nichts dergleichen geschah, und er nestelte verlegen an seinen halboffenen Ärmeln herum.
Der Zunftmeister Ulrich Hiltpurger saß schon auf der Bank. Er nickte den beiden zu und machte ihnen keinerlei Vorwürfe. Etwas abgerückt saß Konrad Peitinger, sauber gewandet und die Nase so hoch tragend, als sei er Justitia persönlich. Hinter dieser Bank drängten sich stehend die Zuhörer, denn die Versammlung war öffentlich. Peter sah sich vorsichtig um und erblickte etliche Flößer. Die Mehrzahl der Zuhörer bestand aus Tagelöhnern, die für diesen Tag keine Gelegenheit zum Broterwerb erhalten hatten, ein paar interessierten Handwerksburschen und Hausfrauen sowie Bettlern und notorischen Nichtstuern, denen jede Abwechslung willkommen war.
Peter war insgeheim dankbar, daß der Richter die Verhandlung so schnell angesetzt hatte. Dabei waren es ganz praktische Erwägungen. Jeder zusätzliche Tag brachte der Stadt nur weitere Kosten für Unterbringung, Verpflegung und Bewachung. Wurde ein rasches Urteil gefällt, das mit Geldstrafen abgegolten oder mit Leibstrafen unverzüglich gebüßt wurde, dann war man der Kosten einer langen Kerkerhaft enthoben.
An der Stirnseite des Saales saß die Nobilität. Es war nicht der gesamte Rat einberufen worden, sondern nur der Ausschuß für Rechtsstreitigkeiten minderer Gewichtigkeit. An zwei langen Tischen und Bänken saßen je drei Mitglieder des Inneren und des Äußeren Rates, in vornehmen Roben und mit gestrengen Mienen. Den Vorsitz führte Niklas Tulbeck. Zur Linken saß an einem kleineren Tisch der Gerichtsschreiber und neben ihm der Stadtschreiber Konrad Orlos. Seine Schreibutensilien lagen akkurat geordnet vor ihm. Er hatte das Malefikantenbuch aufgeschlagen und mit schwungvoller Schrift bereits die Namen der anwesenden Ratsmitglieder eingetragen und schickte sich nun an, schon mal die Kosten für die Stadtkammerrechnung zu überschlagen. Zur Rechten saß – man könnte fast sagen thronte – Heinrich Pütrich, prächtig herausgeputzt, als gelte es den König zu begrüßen und mit der stolzen Miene des sicheren Siegers. Neben ihm saß Ludwig Pütrich, sein Bruder. Er war zwar in gutes Tuch gekleidet, doch weitaus weniger protzig. Sein dunkles, volles Haar fiel halblang in den Nacken. Sein Blick war offen. Er wirkte entweder noch erstaunlich jugendlich oder war tatsächlich erheblich jünger als sein Bruder. Es mochten gut und gerne zwanzig Jahre Unterschied sein. So direkt nebeneinander sitzend, konnte man unschwer die Ähnlichkeit der Gesichtszüge erkennen. Doch während das Antlitz des Alten hart und verbittert war, strahlte der Bruder noch Wärme und Freundlichkeit aus. Er schien sich unwohl zu fühlen in der Rolle des Anklägers oder auch nur des Zeugen, und es war ihm anzusehen, daß er die Angelegenheit lieber anders aus der Welt geschafft hätte.
Auf ein Zeichen des Vorsitzenden hin öffnete der Saaldiener eine rückwärtige Türe, und der Beklagte wurde hereingeführt. Es ging ein Raunen durch die Zuhörer, und Peter erschrak zutiefst. Selbst Paul in seiner Abgeklärtheit brummte: »Pest und Hölle, das ist nicht der Jakob!«
Die erbärmliche Gestalt sah so aus, als hätte sie Urteil und auch Strafe schon hinter sich. Beinlinge und Hemd waren zerschlissen und hingen in Fetzen um den geschundenen Körper, der überall Schürfwunden und verkrustetes Blut aufwies. Die linke Stirn und Gesichtshälfte war blaugrün verfärbt und so heftig geschwollen, daß das Auge kaum aufging. Das Hemd war rechtsseitig an Schulter und Brust blutgetränkt. Die einzige Fürsorge, die man ihm hatte angedeihen lassen, war ein schmutziges Tuch, das um den Hals geknotet war und in dem der
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