Der Wald des Vergessens
schlechte Stimme hat, immer singt: Die Blumen, die im Frühling blühen, tralala, sprießen aus Knochenmehl und Blut, und die hohen Tiere singen, tralala, greifen wir den lieben alten Fritz vom linken Flügel an, tralala, und begradigen wir unsere Front durch den Wald. Das meinen wir, wenn wir sagen oder singen: Macht euch vom Acker, ihr Blumen, die ihr im Frühling blüht! Ein glückliches neues Jahr wünsche ich allen. Allen, die diesen Krieg beendet sehen wollen, meine ich, britisch oder deutsch. Ein glückliches neues Jahr.
Er legte die Lupe zur Seite. Seine Hand zitterte leicht. Dies war das andere Kriegstagebuch, dies kleine Buch, das so sorgfältig gemacht war, damit es genau in einen Rucksack oder eine Tasche paßte, in Leder gebunden und in Fensterleder eingewickelt, damit es nicht feucht wurde. Wo kam es her? Wollte er wirklich wissen, was drinstand?
Er riß den Umschlag auf und fand, was er erwartet hatte – einen Brief von Ada.
Lieber Peter,
die Frage, was ich mit den Familienpapieren machen soll, hat mich in den vergangenen Jahren immer wieder beschäftigt. Sie geben immerhin Zeugnis meiner lebenslänglichen Obsession. Meine Familie wollte ich darunter nicht leiden lassen, zumindest habe ich mich darum bemüht. Vielleicht habe ich damit einen Fehler begangen. Mit Sicherheit ist es mir nicht gelungen, die Auswirkungen meiner Besessenheit zu verstecken. Ich weiß, daß mein Haß auf Uniformen als an Verrücktheit grenzende Exzentrik erscheinen mußte, da er von etwas herzurühren schien, was nicht nur ich, sondern Millionen anderer erlitten hatten, nämlich den Verlust eines Vaters im Ersten Weltkrieg. Wenn ich offener gewesen wäre, wäre vielleicht mein Verhältnis zu Deinem Vater anders geworden und auch seines zu seinen Kindern. Wer weiß?
In Wahrheit kam mein Vater, wie Du sehen wirst, nicht in den Genuß des zweifelhaften Privilegs, für sein Vaterland zu sterben, sondern mußte die schreckliche Entwürdigung erdulden, von seinem Vaterland ermordet zu werden.
Meine Mutter, der Herr möge sie segnen, fühlte zwar den Schmerz darüber mehr, als wir uns vorzustellen vermögen, empfand aber gleichzeitig eine Scham, die niemand nachvollziehen kann, der in jenen widerlichen, hurrapatriotischen Zeiten kein Erwachsener war. Daß ihr Mann nicht dazu in der Lage war, etwas zu tun, das ein solches Schicksal verdiente, dessen war sie sich sicher, aber andererseits war sie sich auch immer sicher gewesen, daß ihr Peter nie einem Mitmenschen ein Leid antun könnte, und doch war er mit keinem anderen Ziel nach Frankreich gezogen, als dort Deutsche totzuschießen. Mehrere unvereinbare Dinge gleichzeitig zu glauben, muß in der damaligen Zeit eine Voraussetzung zum Überleben gewesen sein, und sowohl Stolz als auch Scham gleichzeitig zu empfinden, war alles andere als ungewöhnlich.
Ob meine Mutter jemals freiwillig von diesen Dingen gesprochen hätte, weiß ich nicht, aber ich war schon über zwanzig, als es an die Tür klopfte und alles ans Licht kam. Es war ein schrecklicher Tag, alle waren zornerfüllt und beschuldigten einander. Wer hätte gedacht, daß daraus die größte Freude meines Lebens erwachsen würde? Sie sollte nur wenige Jahre dauern, bis die Wahnsinnigen, die über unser Leben bestimmen, mir alles nahmen. Aber ich will dir nicht vorenthalten, daß mich selbst auf der Höhe meiner Empörung wie meine Mutter die Scham messergleich durchfuhr, selbst wenn ich mich dafür haßte. Und ich empfand auch Groll darüber, daß ich mit der Schande seines Todes konfrontiert worden war. Vorher war es mir mit Sicherheit besser gegangen, auch wenn ich nichts weiter von ihm hatte als ein altes Foto und die Erinnerung an seinen letzten Urlaub, als er auf dem Klavier spielte, das kurz nach meiner Geburt gekauft worden war, damit ich wie die Kinder der Wohlhabenden die Möglichkeit zu musizieren in Reichweite hätte. Wie Du weißt, wäre er von mir enttäuscht gewesen! Aber nachdem ich die erste egoistische Reaktion überwunden hatte, war ich entschlossen, um seinet- und um meinetwillen soviel von der Wahrheit herauszufinden, wie ich konnte. Wir lebten zusammen, und beide waren wir auf der Suche nach unserem persönlichen Gral. Ich habe immer gesagt, wir hätten unser Haus Camelot taufen sollen! Damals, mit Jugend und Kraft als Verbündeten, kam es uns undenkbar vor, daß uns kein Erfolg beschieden sein sollte. Aber die Geschichte hat ihre eigene Tagesordnung, und die Herrschenden, ob mit oder ohne Uniform,
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