Der Wanderchirurg
eine Statue verhielt. Die Gestalt trug einen Mantel, der bis zum Boden reichte und so aussah, als wäre er nur über die Schultern geworfen, denn die Figur besaß keine Arme. Sie schien aus Metall zu sein, denn ab und zu blinkte sie geheimnisvoll auf. »Das muss die Eiserne Jungfrau sein«, flüsterte der Magister, als er sich von seinem Schrecken erholt hatte. »Leuchte mal, ich schaue sie mir näher an.« Er ging vor und stolperte über mehrere große Steine, ähnlich derer, wie sie in der oberen Kammer beim Trockenen Zug zum Einsatz kamen. Vitus half ihm auf. »Tu's besser nicht. Ich habe ein ungutes Gefühl. Irgendetwas stimmt mit der Figur nicht.«
»Wenn du meinst.« Leicht enttäuscht gab der Magister nach. »Dann sehe ich mir mal die Schmiede an.«
Er untersuchte den Ofen mit dem verrußten Abzug, konnte aber nichts Ungewöhnliches entdecken. »Ist sicher ein paar Wochen her, dass hier ein Feuerchen gemacht wurde«, verkündete er. »Mal sehen, was mit der Werkbank ist.« Er kramte auf der Platte herum. »Nichts ... doch!
Warte mal, hier ist eine Schublade!« Er zog sie auf und holte ein großes Buch hervor. »Mal schauen, wie der Titel heißt, komm mal mit der Fackel her.«
Vitus leuchtete ihm.
»Liber dolorum Dosvaldensis», las der kleine Gelehrte laut. »Ich werd verrückt: Das Buch der Schmerzen von Dosvaldes.« Er schlug das Werk auf und blätterte interessiert darin. »Ich glaube, es ist ein Verzeichnis der Folterwerkzeuge in den Kammern. Aber ich kann's nicht so gut lesen. Versuch du es mal.« Er gab Vitus das Buch und nahm dafür die Fackel. Vitus bestätigte die Vermutung. »Die Kammern werden als Cella I und Cella II bezeichnet. Was in der ersten Cella vorhanden ist, wissen wir bereits, und in Cella II ... ja, da steht's: hier befindet sich die Eiserne Jungfrau, auch Schmerzensreiche Mutter« oder Madre dolorosa genannt.«
»Und wie funktioniert die Dame? Steht das auch da?«, drängte der Magister.
Vitus las vor:
»...item muss der verurteilte Sünder verbundenen Augea dem weiblichen Automat entgegenschreiten, alsdann dieser sich oeffnet wie die Schenkel eines vollbusigen Weibes und also ihn zerstöret.“
»Wie und wodurch öffnet sich die Dame wohl?«, fragte der kleine Mann neugierig. Er näherte sich der Figur vorsichtig und betrachtete sie von oben bis unten.
»Du hast Recht, sie hat etwas Unheimliches. Sie ist das personifizierte Böse.«
»Vorn an ihrem Mantel sind zwei Griffe, dort, wo auf einer Schürze die Taschen sitzen«, sagte Vitus.
»Stimmt. Sollen wir dran ziehen?« Der Magister steckte die Fackel in eine Wandhalterung, um beide Hände frei zu haben.
»Ja, los.«
»Halt!« Plötzlich hielt der kleine Gelehrte inne: »Hörst du das? Es klingt, als ob starker Regen gegen eine Mauer prasselt.«
»Jetzt höre ich es auch. Es kommt von der Figur. Irgendetwas hat sie damit zu tun. Lass uns versuchen, sie zu öffnen. Du nimmst den linken, ich den rechten Griff.«
»In Ordnung, entkleiden wir die Dame.« Sie zogen ein-, zweimal kräftig, dann, mit einem kreischend-metallischen Laut, öffneten sich beide Mantelhälften weit. Die Eiserne Jungfrau war innen hohl. In den Mantelhälften blinkten Dutzende nach innen gerichtete Stacheln und Schwertklingen.
„Was hat das nun wieder zu bedeuten?«, fragte der Magister entsetzt. Abermals schauten sie in das Buch:
»,.. der Häretiker mag sein letztes Sprüchlein sagen, bis dass die Jungfrau sich schließet und ihn vieltausendmal durchbohret. «
»Jetzt ist mir klar, warum dem Delinquenten vorher die Augen verbunden werden«, sagte der Magister schaudernd.
»...solcherart perforieret zu werden, ist als der Kuss der Jungfrau bekannt.«
»Niemand würde sich freiwillig in ein solches Waffenarsenal stellen«, sprach der Magister kopfschüttelnd weiter, und ...« Er verstummte. »Hörst du das? Es rauscht jetzt so laut wie ein Wasserfall.« Vitus klappte das Buch zu. »Ich glaube, ich weiß, was die Ursache ist. Es ist der Pajo, der unter uns fließt. In dem Buch steht auch, dass der Delinquent beim Schließen des Mantels zerstückelt wird, woraufhin er nach unten in fließendes Wasser fällt und seine Überreste fortgeschwemmt werden.« »Wenn das so ist, muss es hier irgendwo etwas geben, das eine Falltür oder etwas Ähnliches auslöst. Wahrscheinlich außerhalb der Dame, irgendwo hier im Raum.« Der Magister blickte sich suchend um. »Dort.« Ein unscheinbarer hölzerner Hebel ragte neben der Jungfrau aus dem Mauerwerk.
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