Der Wanderchirurg
führe die Zeugen aus dem Nebenraum herein.«
»Ja, Hochwürden.« Der riesige Kerkermeister verschwand und kehrte gleich darauf mit zwei Zeugen wieder, die Vitus noch nie im Leben gesehen hatte. Es waren eine breithüftige Frau mit derben Gesichtszügen, aus denen ein Paar flinke Äuglein hervorstachen, und ein Knabe, der an der Schwelle zum Jünglingsalter stand. Er hatte pechschwarzes Haar und so starke Augenbrauen, dass sie wie aufgeklebt wirkten. Sein pickliges Gesicht zeigte einen wichtigtuerischen Ausdruck. Vitus, der die Brüder aus Campodios erwartet hatte, musste an sich halten, um seine Enttäuschung zu verbergen. Was hatte das zu bedeuten?
»Danke, Nunu.« Ignacio wandte sich den Zeugen zu und nannte Namen und Funktion der Anwesenden. »Und nun«, fuhr er leutselig fort, »stell dich und deinen braven Sohn bitte vor, meine Tochter. Wer seid ihr, woher kommt ihr?«
»Jawohl, Hochwürden!« Die Dickliche machte einen tiefen Knicks vor dem Inquisitor, wobei sie dessen Hand ergriff und einen Kuss darauf hauchte. »Ich heiße Maria Perpinas, und das ist mein Sohn Ozo.«
Sie stieß ihrem Sprössling in die Seite, worauf dieser sich zu einem Diener bequemte und »Guten Morgen, Hochwürden« nuschelte. »Wir kommen aus der Nähe von Porta Mariae, wo mein braver Mann und ich Pächter eines kleinen Bauernhofes sind«, fuhr sie eifrig fort. »Wir sind arme, gottesfürchtige Leute, Hochwürden! Die Tage im Jahr, an denen ich nicht zur Kirche gehe, könnt Ihr an einer Hand abzählen. Kein Sonntag, an dem ich nicht eine Kerze dort anzünde, um für meine Familie und mich den Segen unseres allmächtigen Schöpfers herabzuflehen. Ich darf Euch ...«
»Schon recht, meine Tochter«, unterbrach Ignacio ihren Redefluss. »Ich muss dir zunächst einen heiligen Eid abnehmen, dass von dem, was du mit deinem Sohn hier aussagst, kein Sterbenswörtchen den Raum verlässt.«
»Selbstverständlich, Hochwürden!« Maria machte abermals einen Knicks. »Ich will tot umfallen, wenn ich ...«
»Gut gut. Ich spreche Euch jetzt die Eidesformel vor.«
Ignacio stand auf, um die Bedeutung des Schwurs zu unterstreichen.
»Beim erhabenen Gott, unserem allmächtigen Schöpfer, bei unserem Heiland Jesus Christus, der geboren, gestorben und wieder auferstanden ist und endlich auch beim Heiligen Geist schwören wir, Maria Perpinas und Ozo Perpinas, dass wir das Gesetz der heiligen Inquisition achten werden, nach dem es bei Strafe der Exkommunikation verboten ist, den Inhalt eines Ketzerprozesses im Wortlaut, in Teilen des Wortlautes oder auch nur dem Sinn nach weiterzugeben. Wir schwören, über diese Verhandlung Stillschweigen zu bewahren, solange wir leben ...
Hebt jetzt die rechte Hand und sagt: Ich schwöre es, so wahr mir Gott helfe.«
»Ich schwöre es, so wahr mir Gott helfe.« Mutter und Sohn murmelten einträchtig die Formel und blickten dabei feierlich drein wie bei einer Messe.
»Schön, das wäre erledigt.« Ignacio wirkte sehr zufrieden. Es war eine eherne Regel der Inquisition, dass die Inhalte von Ketzerprozessen geheim gehalten werden mussten. Als Erstes wollte er sich den Jungen der dicken Bauersfrau vornehmen.
„Ozo, mein Sohn«, sagte er jovial, »schildere mir doch einmal die schreckliche Begebenheit, die du an jenem bewussten Tag erlebt hast.« Er blickte in seine Papiere.
»Du hattest unserem Informanten erzählt, dass du gerade dabei warst, Schafe zu hüten.«
»So ist es, Hochwürden!«, sprudelte Maria hervor. »Er kam ganz verwirrt nach Hause und erzählte, er hätte unseren Heiland Jesus Christus gesehen. Ich fragte ihn, ob er sicher sei, und er sagte ja, und ich glaubte ihm, denn es wäre nicht das erste Mal, dass jemand in unserer Familie eine Erscheinung gehabt hat. Meine Tante Arana erzählt immer wieder von einem Traum, in dem ihr die Jungfrau Maria erschien, die ihr ...«
»Lasst Euren Sohn selbst antworten«, unterbrach der Alcalde, der sich damit schon zum zweiten Mal an diesem Tag einschaltete. »Er wird selbst am besten wissen, was er gesehen hat.«
»Natürlich, sehr gerne, Don Jaime.« Maria schob Ozo nach vorn: »Nun sag schon, was du gesehen hast!«
»Ja, Mutter. Also ... also, ich war gerade beim Schafehüten unten bei den Flusswiesen, da kam auf einmal einer daher, der sah ganz komisch aus. Der ging auch so komisch, als ob er gar nicht auftreten wollte«, Ozos große Augenbrauen zogen sich angestrengt zusammen, »gerade so, als ob er am liebsten in der Luft gehen würde!«
»Das ist
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