Der Weg in die Dunkelheit 2: Die Wächterin
können auch nicht nein sagen.«
» Jenny.« Ich wählte meine Worte sorgfältig. Ich wusste aus Erfahrung, wie viel einen die Leute anlogen, wenn man trauerte, und dabei noch dachten, sie täten einem einen Gefallen, indem sie einen vor allem Unschönen beschützten. » Meine Familie hatte nichts mit dem zu tun, was deinem Vater zugestoßen ist. Oder Verity. Ich weiß, dass dein Vater etwas anderes vermutet hat, aber er hat sich geirrt.«
» Du lügst.«
» Das würde ich nicht tun. Nicht, was das betrifft. Mein Onkel hat deinen Vater nicht getötet.«
» Nein«, sagte sie nachdenklich, » das hätte er auch nicht getan. Nicht persönlich, das ist nicht sein Stil. Er lässt immer andere Leute die Drecksarbeit erledigen. Jemand anders muss den Kopf hinhalten oder den Abzug betätigen. Wie dein Vater. Und …« Sie wirbelte auf dem Vinylhocker herum und hielt inne, um Colins Truck anzustarren. » Dein Leibwächter. Oder Freund? Mein Vater war sich da nie ganz sicher. Ein gefährliches Spiel, hat er gesagt, für euch beide.«
Ich trat von der Theke zurück.
» Es ist dir noch nicht einmal bewusst, nicht wahr? Was dein Onkel getan hat, was deine Familie getan hat … Stellst du dir nie die Frage, welchen Preis das alles kostet? Findest du nicht, dass er vielleicht zu hoch ist? Oder bist du so zufrieden damit, nichts zu wissen, dass es dich noch nicht einmal interessiert?«
Kein Wunder, dass Luc mich für verrückt gehalten hatte, als ich nach Veritys Tod über Gerechtigkeit und Rache dahergeredet hatte. Ich musste genauso geklungen haben. Nur, dass ich geistig völlig gesund gewesen war – und das war auch Jenny. Ihre Trauer mitzuerleben war so, als würde ich durch einen Spiegel fallen. » Was willst du?«
Ich wusste es bereits.
Sie setzte zu einer Antwort an, aber dann veränderte sich ihr Gesichtsausdruck. Binnen eines Augenblicks wurde ihre Miene fröhlich und liebenswürdig, und ein unpersönliches Lächeln hob ihre Wangen.
Eine Sekunde später legte sich eine Hand auf meine Schulter. » Es wird Zeit für die Messe. Wer ist das hier?«
Billy. Jenny muss gewusst haben, wer er war. Kannte er sie? In meinem Gehirn geriet alles durcheinander, und ich konnte nicht antworten.
Jenny stand auf und streifte sich die Jacke über. » Jen«, sagte sie. » Eine Schulfreundin.«
» Freut mich sehr, dich kennenzulernen, Jen. Du musst uns entschuldigen, aber wir müssen zur Kirche. Wenn wir zu spät kommen, reißt meine Schwester uns den Kopf ab.«
So charmant, mein Onkel, mit seinem schneeweißen Haar und ordentlich gepflegtem Bart und den Augen, um die sich Lachfältchen bildeten. Wie ein absolut tödlicher Gartenzwerg im Sonntagsstaat. Wenn man ihn so sah, konnte man fast vergessen, wie schnell sein vergnügter Gesichtsausdruck verschwand, um etwas Skrupellosem und Stahlhartem Platz zu machen, wenn man ihm in die Quere kam.
» Klar. Wir sehen uns, Mo.«
Sie schob Geld unter ihren Teller, den ich immer noch nicht abgeräumt hatte, und ging ohne ein weiteres Wort.
» Wir sind schon zu spät dran«, sagte Billy und sah sich im fast leeren Slice um. » Du räumst die Schweinerei besser schnell weg, die deine Freundin hinterlassen hat.«
Kapitel 10
Es gibt etwas, das man über meine Schule wissen sollte: St. Brigid ist eine der teuersten und angesehensten Mädchenschulen der Stadt, aber zugleich eine normale Gemeindekirche.
Das hatte Vorteile. Schließlich hätten nur wenige Schulen, die solch einen tadellosen Ruf zu wahren hatten, die Tochter eines verurteilten Verbrechers aufgenommen, wenn die Familie nicht zur Gemeinde gehört hätte – eine Familie, die nur zu gern großzügig spendete, wann immer die Küche repariert werden musste, die Klimaanlage ausfiel oder das Pfarrhaus renoviert wurde.
Es hatte aber auch Nachteile. In meinem Fall bedeutete es, dass eine größere Wahrscheinlichkeit bestand, dass meine Familie zufällig meinen Lehrern begegnete, zumindest denjenigen mit weißem Kragen oder schwarzem Habit. Noch vor einem Jahr wäre das kein Problem gewesen – sie hätten Loblieder auf mich gesungen, darüber, wie nett und fleißig und verantwortungsvoll ich war. Heute klang das aber ganz anders.
Nach dem Gottesdienst gingen wir zum geselligen Beisammensein in den Gemeindesaal hinüber. Alle hielten Tassen mit schwachem Kaffee und Pappteller mit Kürbiskuchen in den Händen. Die Jugendlichen in meinem Alter, von denen manche mit mir zur Schule gingen, viele aber auch nicht, standen im Kreis, redeten
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