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Der weiße Reiter

Titel: Der weiße Reiter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bernard Cornwell
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Flechten,
     Kletten, Schöllkraut und Mistelzweige sammelten. Mein Messer durfte ich dabei nicht zu Hilfe nehmen, weil es eine metallene
     Klinge hatte, und bevor wir eine Pflanze ernteten, mussten wir dreimal im Kreis um sie herumgehen. Die Gewächse waren jetzt,
     zur Winterzeit, klein und kümmerlich. Iseult verlangte auch nach Dornzweigen und erlaubte, dass ich sie mit dem Messer schnitt.
     Anscheinend waren sie weniger wichtig als die Flechten und Kräuter. Ich hielt immer wieder Ausschau für den Fall, dass Dänen
     am Horizont auftauchten, doch sie ließen sich nicht blicken. Ein kalter, böiger Wind zerrte an unserer Kleidung, und es dauerte
     eine Weile, bis wir alles, was Iseult brauchte, gesammelt hatten. Endlich aber war ihr Beutel gefüllt, und ich zog die Dornzweige
     hinter mir her zur Hütte zurück, in der sie mich aufforderte, zwei Löcher zu graben. «Im Abstand von einer Elle und jeweils
     drei Ellen tief», sagte sie.
    Wozu die Gruben dienen sollten, verriet sie mir nicht. Sie wirkte niedergedrückt und schien den Tränen nahe, als sie das Schöllkraut
     und die Kletten an einen Dachbalken hängte. In einer flachen Holzschale zerstampfte sie die Flechten und Misteln zu einer
     Paste, die sie mit Speichel und Urin verrührte, wobei sie Zauberformeln in ihrer |254| Muttersprache flüsterte. Das alles dauerte sehr lange, und manchmal musste sie vor Erschöpfung eine Pause einlegen. Dann setzte
     sie sich vor die Feuerstelle und schaukelte mit dem Oberkörper vor und zurück. «Ich weiß nicht, ob ich es schaffe», sagte
     sie einmal.
    «Du kannst es versuchen.»
    «Aber wenn ich versage, werden sie mich noch mehr hassen.»
    «Sie hassen dich nicht», erwiderte ich.
    «In ihren Augen bin ich eine heidnische Sünderin», sagte sie. «Sie hassen mich.»
    «Dann heile dieses Kind, und sie werden dich lieben.»
    Ich konnte die Gruben nicht so tief ausheben, wie sie es wollte. Der Grund wurde immer feuchter, und schon in zwei Fuß Tiefe
     sammelte sich in den Löchern brackiges Wasser. «Mach sie breiter», sagte Iseult, «breit genug, damit sich das Kind hineinkauern
     kann.» Ich tat, was sie verlangte, und verband die beiden Löcher schließlich durch ein Loch in der feuchten Erdwand, die sie
     trennte. Ich musste sehr behutsam vorgehen, damit die Erdbrücke zwischen den Gruben nicht einbrach. «Es ist falsch», sagte
     Iseult, womit sie allerdings nicht meine Arbeit meinte, sondern den Zauber, den sie anwenden wollte. «Jemand wird sterben,
     Uhtred. Irgendwo wird ein Kind sterben, damit dieses überlebt.»
    «Wie kannst du das wissen?», fragte ich.
    «Weil mein Zwillingsbruder starb, als ich geboren wurde», antwortete sie. «Ich besitze seine Kräfte, doch wenn ich sie nutze,
     greift er aus der Schattenwelt hinaus und holt sie sich zurück.»
    Es wurde dunkel. Der Junge hustete in einem fort, doch in meinen Ohren klang es deutlich schwächer, als ob schon fast das
     ganze Leben aus seinem kleinen Körper gewichen |255| sei. Alewold betete unablässig. Iseult kauerte an der Tür unserer Hütte und starrte nach draußen in den Regen. Als Alfred
     sich ihr näherte, winkte sie ihn weg.
    «Er stirbt», jammerte der König.
    «Noch nicht», entgegnete Iseult, «noch nicht.»
    Edward keuchte. Wir alle hörten es und fürchteten mit jedem seiner rasselnden Atemzüge, dass es sein letzter sein könnte.
     Iseult aber rührte sich immer noch nicht. Als sich dann endlich ein Spalt in den Regenwolken auftat und fahles Mondlicht auf
     die Sümpfe fiel, sagte sie mir, dass ich den Jungen holen sollte.
    Ælswith sträubte sich, den Jungen herzugeben. Sie wollte, dass er geheilt würde, aber als ich ihr sagte, dass Iseult ihren
     Zauber allein anwenden müsse, jammerte Ælswith, ihr Sohn dürfe nicht getrennt von seiner Mutter sterben. Von ihren Klagen
     beunruhigt, fing Edward wieder zu husten an. Eanflæd streichelte ihm über die Stirn. «Kann sie ihn denn heilen?», fragte sie
     mich.
    «Ja», sagte ich, ohne dass ich es selbst genau wusste.
    Eanflæd legte ihre Hände auf Ælswiths Schultern. «Lasst den Jungen gehen, gute Frau», sagte sie, «lasst ihn gehen.»
    «Er wird sterben!»
    «Lasst ihn gehen», wiederholte Eanflæd, worauf Ælswith in den Armen der Hure zusammenbrach. Ich hob Alfreds Sohn hoch. Er
     fühlte sich heiß an, zitterte dennoch am ganzen Körper und war so leicht wie die Feder, die ihn nicht hatte heilen können.
     Ich wickelte ihn in eine Wolldecke und trug ihn zu Iseult.
    «Du darfst

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