Der weite Himmel: Roman (German Edition)
der sich ziemlich sicher war, aus welcher Richtung der Wind hier wehte, erhob sich. »Ich muß sowieso nach Hause. Vielen Dank für das Essen, Lily.« Sachte berührte er ihre Wange und fühlte, wie sie zusammenzuckte. So ließ er rasch seine Hand sinken. »Essen Sie lieber, solange die Suppe noch heiß ist«, riet er ihr. »Ich schau’ morgen wieder rein, Adam.«
»Gute Nacht, Ben.« Adam hielt Lilys Hand fest und drückte sie aufmunternd, damit sie sich wieder hinsetzte. Dann ergriff er auch ihre andere Hand und wartete, bis sie den Blick hob und ihn ansah. »Hab keine Angst. Ich werde nicht zulassen, daß dir etwas geschieht.«
»Ich habe immer Angst.« Ihre Hand zitterte unter seiner, doch er hielt es für angezeigt, sein Glück auf die Probe zu stellen, deshalb gab er sie nicht frei. »Lily, du bist in ein fremdes Haus gekommen, bist von lauter fremden Menschen umgeben, und trotzdem bleibst du hier. Ich finde, dazu gehört eine ziemliche Portion Mut.«
»Ich bin nur hierhergekommen, weil ich ein Versteck suchte. Du weißt nicht viel von mir, Adam.«
»Aber ich werde dich kennenlernen, sobald du es zuläßt.« Mit dem Zeigefinger einer Hand streichelte er den langsam blasser werdenden Bluterguß unter ihrem Auge. Regungslos saß sie da und blickte ihn argwöhnisch an, während sein Finger auch die Prellung an ihrem Kinn berührte. »Du wirst mir irgendwann einmal alles über dich erzählen, Lily. Aber erst dann, wenn du selbst dazu bereit bist.«
»Warum interessierst du dich so für mich?«
Sein Lächeln rührte ihr Herz. »Weil du etwas von Pferden verstehst und weil du meinen Hunden immer heimlich Lekkerbissen zusteckst.« Das Lächeln wurde breiter, als er sah, wie ihr das Blut ins Gesicht stieg. »Und weil du eine köstliche Suppe machst. Jetzt iß«, mahnte er und ließ sie los, »sonst wird alles kalt.«
Lily sah ihn schweigend an, dann nahm sie ihren Löffel und begann zu essen.
Im Stockwerk darüber war Tess mit einem Buch aus der Bibliothek und einer Flasche Mineralwasser auf dem Weg in ihr Zimmer. Sie hatte vor, so lange zu lesen, bis ihr die Augen zufielen, und hoffte, daß sie dann die Nacht ungestört durchschlafen konnte.
Tess kannte ihre lebhafte Fantasie, die ihr zwar beim Schreiben von Drehbüchern sehr zugute kam, ihr aber heute nacht mit Sicherheit Alpträume bescheren würde. Die Details,
die Ben versehentlich ausgeplaudert hatte, würde sie so lange verarbeiten und ausschmücken, bis sie sich in ihrem Kopf zu gräßlichen Visionen formten.
Vielleicht würde sie der umfangreiche Liebesroman, dessen buntes Cover dem Leser spannende Unterhaltung versprach, von den jüngsten Ereignissen ablenken. Doch als sie an Willas Zimmer vorbeikam, vernahm sie hinter der geschlossenen Tür ein verzweifeltes, zu Herzen gehendes Schluchzen. Tess zögerte kurz und wünschte, sie hätte die andere Treppe benutzt. Sie hatte nicht damit gerechnet, daß dieses hilflose Weinen, das von unendlichem Kummer zeugte, ihr so zu Herzen gehen würde. Die Tränen zeugten von tiefstem Schmerz.
Tess war schon versucht, eine Hand zu heben und zu klopfen, doch dann besann sie sich und preßte nur die Handfläche mit einem unterdrückten Fluch gegen das glatte Holz der Tür. Wenn sie einander besser gekannt hätten oder sich völlig fremd gewesen wären, dann hätte sie sich vielleicht überwunden, das Zimmer zu betreten. Doch zwischen ihnen standen so viele unausgesprochene Worte, so viele aufgestaute Emotionen, daß Tess es nicht über sich brachte, die Tür zu öffnen und Willa ihren Beistand anzubieten. Sie wußte nur zu gut, daß Trost von ihrer Seite nicht erwünscht war. Willa würde sich bei ihr nicht von Frau zu Frau ausweinen, geschweige denn von Schwester zu Schwester. Und da ihr auf einmal schmerzhaft bewußt wurde, daß sie diese Tatsache zutiefst bedauerte, ging sie leise weiter zu ihrem eigenen Zimmer, schloß behutsam die Tür hinter sich und verriegelte sie sorgfältig. Sie wußte, daß sie nicht mehr traumlos schlafen würde.
Mitten in der Nacht, als der Wind auffrischte und an den hölzernen Läden rüttelte, als der Regen hart gegen die Fensterscheiben trommelte, lag er im Dunkeln und lächelte in sich hinein. Wieder und wieder rief er sich jede einzelne Sekunde des Mordes, den er begangen hatte, ins Gedächtnis zurück und verspürte dabei eine elektrisierende Erregung.
Ihm war, als sei er während der Tat in die Haut eines anderes
Wesens geschlüpft, eines Geschöpfes, so kalt und
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