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Der wilde Tanz der Seidenröcke: Roman

Der wilde Tanz der Seidenröcke: Roman

Titel: Der wilde Tanz der Seidenröcke: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Merle
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unstrittiges Zeichen der Männlichkeit. Zum Beweis das berühmte Wort: Der Knabe hat keine Gicht vor der Mannbarkeit, und Eunuchen haben sie niemals.«
    »Wer hat das gesagt?«
    »Hippokrates, Sire.«
    »Hippokrates!« sagte er im Ton höchster Achtung, indem er sich aus seinen Kissen aufrichtete, und ein ermutigtes Lächeln löste ein wenig seine verzerrten Züge. »Bist du sicher?«
    »Gewiß, Sire. Dieses Wort hat mein Vater oft zu meinem Großvater gesagt, wenn er an seiner Gicht litt. Und Gott weiß, daß der Baron von Mespech für dessen Wahrheit einsteht, denn auf seinem Gut im Périgord gibt es keine Jungfer, der er trotz seines hohen Alters nicht noch Ehre erweisen könnte.«
    »Ein Gut im Périgord! Oder lieber noch in meinem Béarn! Oh, davon habe ich mein Leben lang geträumt«, sagte Henri, indem er sich wieder seiner Sehnsucht nach dem Landleben ergab. »Ein schönes Stück Land mit einem kleinen Fluß inmitten und mit Feldern und Wäldern, daß ich jagen könnte und leben, wie es mir beliebte. Kein Schloß, nur ein einfaches Gut. Aber vor allem Stille, Abgeschiedenheit und, wenn möglich, den Herzensfrieden in der naiven Liebe eines kleinen Hirtenmädchens, das man an einer Wegbiege traf ... Ach ja!« fügte er mit einem Seufzer hinzu, »alles Träume und Schäume: denken wir nicht mehr dran!«
    Stille hatte er tatsächlich sogar als Kranker kaum bei all den Menschen, die sich in seinem Schlafgemach drängten und die ständig kamen und gingen. Zwar sprachen sie nur halblaut, aber all das Gemurmel ergab insgesamt einen ziemlich anhaltenden Lärm. Ich fragte mich, wie Seine Majestät es anstellen wollte, mir mitten unter diesen vielen Leuten einen höchst geheimen Brief zu diktieren. Aber ich sollte bald erfahren, daß es sich nicht darum drehte: sobald er den Comte de Gramont, Bellegarde, Bassompierre und mich um sich versammelt sah, sagte der König, wir vier sollten ihm nacheinander den Roman
L’Astrée
vorlesen, und er hoffe, daß uns das abwechselnde Lesen nicht zu sehr ermüde, denn er wünsche, daß wir auch über die kommende Nacht bei ihm blieben und die Lektüre des Romans fortsetzten, um ihm über seine Schlaflosigkeit hinwegzuhelfen.
    Es versteht sich von selbst, daß wir seinem Befehl mit Wärme zustimmten, auch ich, der am wenigsten Aufrichtige der vier, denn trotz meiner großen Liebe zu Henri war ich für die Ehre, die er mir erwies, nicht sehr empfänglich; der Verlust meiner geliebten Stunde bei der Gräfin zehrte an mir.
    Bassompierre bat um die Gunst, mit der Lektüre beginnen zu dürfen, da er den Louvre am Nachmittag verlassen müsse. Der König willigte ein, und Bassompierre fing an zu lesen, was immerhin den Vorteil hatte, daß jenes andauernde Gemurmel im Raum sich ein wenig legte. Die Stimme des Comte hatte ein sehr angenehmes Timbre, und er las sehr gut, weil er sorgfältig artikulierte, wie es Fremde zu tun pflegen, die unsere Sprache vortrefflich beherrschen.
    Nach allgemeinem Bekenntnis ist
L’Astrée
von Honoré d’Urfé einer der bestgeschriebenen und rührendsten Romane, und wiewohl ich ihn mehrmals gelesen habe und die schönsten Passagen auswendig kenne, bereitete es mir großes Vergnügen, ihn laut vorgelesen zu hören, nicht allein wegen der Schönheit seiner Sprache, sondern auch weil die erhabenen Gefühle Céladons für Astrée mich auf jene verwiesen, die ich mit solcher Stärke für Frau von Lichtenberg empfand.
    Wie hätte ich nicht an sie denken sollen, als ich dies hörte:
»Céladon war von Astrées Vollkommenheiten derart eingenommen, daß er nicht umhin konnte, sich ganz an sie zu verlieren. Wenn es erwiesen ist, daß einer dadurch, daß er sich verliert, etwas gewinnen kann, womit er sich dann begnügen muß, so darf Céladon sich glücklich schätzen, sich so angelegentlich verloren zu haben, daß er die Gutwilligkeit der schönen Astrée gewann, denn da sie seine Freundschaft sicher fühlte, wollte sie nicht, daß diese durch Undank vergolten werde, sondern vielmehr durch eine gegenseitige Zuneigung, aus welcher sie seine Freundschaft und seine Dienste entgegennahm.«
    Diese von Bassompierre so schön gelesenen Zeilen machten mich trunken vor Freude. Denn so wie für Bassompierre – und vielleicht auch für den König – die schöne Astrée nur die Züge von Mademoiselle de Montmorency annehmen konnte, sah ich, der ich ganz von der Gräfin erfüllt war und »mich an sie verloren hatte«, wie der Autor es so trefflich sagt, hierin die Prophezeiung,

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