Der Winterschmied
Verrat drehte sich um und wirkte für ein oder zwei Sekunden konsterniert.
»Ach ja«, sagte sie. »Natürlich. Dann gehen wir besser weiter.« Sie ließ sich von Tiffany zum Grab führen, wobei sie noch immer mit Herrn Blinkhorn über ein komplexes Problem sprach, das einen umgestürzten Baum und den Schuppen von jemand anderem betraf. Die Leute folgten ihnen.
»Wenigstens nimmt es für dich ein glückliches Ende, Fräulein Verrat«, flüsterte Tiffany. Das war eine dumme Bemerkung, und Tiffany verdiente die Antwort, die sie bekam.
»Wir sorgen dauernd für ein glückliche Ende, Kind, Tag für Tag. Aber weißt du, für Hexen gibt es kein glückliches Ende. Nur ein Ende. Und da wären wir...«
Besser nicht daran denken, dachte Tiffany. Besser nicht daran denken, dass du tatsächlich eine Leiter in ein richtiges Grab hinabkletterst. Denk nicht daran, dass du Fräulein Verrat die Leiter hinab zu dem Laubhaufen am einen Ende geleitest. Du musst verdrängen, dass du in einem Grab stehst.
Hier unten schien die schreckliche Uhr noch lauter zu ticken: Klonk, klank, klonk, klank...
Fräulein Verrat trampelte den Laubhaufen ein wenig herunter und sagte fröhlich: »Ja, ich kann mir vorstellen, dass ich es hier recht bequem habe. Hör mal, Kind, ich habe dir das mit den Büchern gesagt, nicht wahr? Und unter meinem Stuhl liegt ein kleines Geschenk für dich. Ja, hier scheint alles in Ordnung zu sein. Oh, das hätte ich fast vergessen...«
Klonk, klank, klonk, klank... machte die Uhr, die hier viel lauter klang.
Fräulein Verrat stellte sich auf die Zehenspitzen und lugte über den Rand des Grabs hinweg. »Herr Leicht! Du schuldest der Witwe Langich zwei Monatsmieten! Verstanden? Herr Viel, das Schwein gehört Frau Frumment, und wenn du es ihr nicht zurückgibst, verlasse ich mein Grab und stöhne unter deinem Fenster! Frau Fullsome, die Familie Doggelich hat das Durchgangsrecht auf der drehwärtigen Weide, und zwar länger, als selbst ich mich zurückerinnern kann, und du musst... du musst...«
Klon... k.
Es folgte ein Moment, ein langer Moment, in dem das plötzliche Schweigen der Uhr, die nicht mehr tickte, wie ein Donnern über der Lichtung hing.
Langsam sank Fräulein Verrat auf das Laub nieder.
Es dauerte einige entsetzliche Sekunden, bis Tiffanys Gehirn wieder arbeitete, und dann schrie sie die am Grab zusammengedrängten Leute an: »Zurück mit euch! Lasst ihr doch Luft!«
Sie kniete sich neben die alte Hexe, während die Leute hastig zurückwichen.
Der scharfe Geruch feuchter Erde erfüllte die Luft. Wenigstens schien Fräulein Verrat mit geschlossenen Augen gestorben zu sein. Das war nicht immer der Fall. Manchmal hatte Tiffany die Augen der Toten schließen müssen, und es kam ihr so vor, als müssten sie dadurch noch einmal sterben...
»Fräulein Verrat?«, flüsterte sie. Das war der erste Test. Es gab viele solche Tests, und sie alle waren unerlässlich. Man musste den Toten ansprechen, seinen Arm heben, den Puls fühlen, auch hinter dem Ohr, den Atem mit einem Spiegel überprüfen... Tiffany hatte immer befürchtet, dabei etwas falsch zu machen. Bei ihrer ersten Begegnung mit jemandem, der tot zu sein schien - ein junger Mann, der einem schrecklichen Unfall in einer Sägemühle zum Opfer gefallen war -, hatte sie jeden einzelnen Test durchgeführt, obgleich sie dafür erst mal den Kopf suchen musste.
In Fräulein Verrats Hütte gab es keine Spiegel.
In dem Fall sollte sie...
...nachdenken! Dies ist Fräulein Verrat! Und ich habe gehört, wie sie vor wenigen Minuten ihre Uhr aufgezogen hat!
Tiffany lächelte.
»Fräulein Verrat«, sagte sie ganz dicht am Ohr der alten Hexe. »Ich weiß, dass du da drin bist!«
Und in diesem Moment wurde der Morgen, der traurig, seltsam, sonderbar und schrecklich gewesen war... auf einmal Boffo.
Fräulein Verrat lächelte.
»Sind sie weg?«, fragte sie.
»Fräulein Verrat!«, sagte Tiffany streng. »Du hast etwas Schreckliches getan!«
»Ich habe die Uhr mit dem Daumennagel angehalten«, erwiderte Fräulein Verrat stolz. »Durfte sie doch nicht enttäuschen, oder? Ich musste ihnen eine ordentliche Schau bieten!«
»Fräulein Verrat«, sagte Tiffany immer noch sehr ernst, »hast du die Geschichte von der Uhr erfunden?« »Natürlich habe ich das! Und sie ist ein wundervolles Stück Folklore, ein richtiger Knaller. Fräulein Verrat und
ihr Uhrenherz! Könnte sogar zu einem Mythos werden, wenn ich Glück habe. Man wird sich über Jahrtausende hinweg an
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