Der Wolkenpavillon
gezügelter Feindseligkeit. »Und da Ihr Euch um zwei weitere Entführungsfälle kümmern müsst, werde ich mich mit meinen eigenen Leuten auf die Jagd nach dem Vergewaltiger meiner Tochter machen.«
»Genau darüber wollte ich mit Euch reden«, erklärte Sano. »Auf der Suche nach Chiyo habe ich mit vielen Leuten gesprochen, die sich darüber beklagen, von Euch und Euren Männer bedroht und verprügelt worden zu sein.«
»Wir haben sie bloß ein bisschen wachgerüttelt«, sagte Kumazawa. »Ich habe getan, was ich tun musste.«
»So führt man keine Ermittlungen«, ermahnte Sano ihn. »Ihr bestraft Unschuldige und verschwendet Zeit und Kraft. Mit Gewalt bewirkt man nur, dass die Leute sich vor einem verschließen. Schlimmstenfalls bekommt man falsche Aussagen. Wenn Ihr so weitermacht, erschwert Ihr mir die Arbeit. Also mischt Euch nicht mehr in die Ermittlungen ein.«
Major Kumazawa funkelte Sano wütend an. »Es geht hier um meine Tochter! Ich habe das Recht, notfalls Gewalt anzuwenden!«
»Ich kann Euch ja verstehen«, gab Sano zu, der nicht anders handeln würde, wenn es um seine Tochter Akiko ginge. »Aber ich darf Euch keine Eigenmächtigkeiten erlauben. Haltet Euch aus den Ermittlungen heraus! Das ist ein Befehl.«
Kumazawa lief rot an, so sehr traf ihn die Demütigung, dass Sano schon wieder seinen höheren Rang ausspielte. »Und wenn ich nicht gehorche?«, fragte er trotzig, obwohl ihm klar war, dass ihm gar keine Wahl blieb.
»Habt Ihr die vielen Leute auf meinem Anwesen gesehen? Jeden Tag sind es Hunderte, und jeder will etwas von mir. Ich muss die Ermittlungen nicht führen. Ich habe auch so genug zu tun.«
»Das weiß ich!«, stieß Kumazawa hervor. Er hatte Sanos Drohung, die Ermittlungen in andere Hände zu geben, falls er nicht kooperierte, nur zu gut verstanden. »Aber es geht um Eure Cousine. Ihr würdet die Suche nach ihrem Vergewaltiger niemals aufgeben. Ihr seid ein Mann von Ehre, das wenigstens muss ich Euch zugestehen. Ihr würdet niemals Euer Wort brechen.«
Tatsächlich hatte Sano noch jedes Versprechen eingelöst, selbst wenn er dafür sein Leben aufs Spiel setzen musste. Aber die Dinge hatten sich geändert, als seine Mutter damals des Mordes beschuldigt worden war und Sano im Zuge seiner Nachforschungen herausfand, dass seine Herkunft ganz anders aussah, als er immer geglaubt hatte. Bei der Jagd nach dem Mörder hatte er Dinge getan, die er sich vorher niemals zugetraut hätte, zum Beispiel die inszenierte Gerichtsverhandlung gegen seinen einstigen Freund Yoritomo und dessen vorgetäuschte Hinrichtung. Sano wusste, dass irgendeine grundlegende Veränderung mit ihm vorgegangen war, nachdem er von seiner wahren Herkunft erfahren hatte.
Sano wusste selbst nicht mehr, zu was er fähig war.
Auf der einen Seite wollte er Gerechtigkeit für Chiyo; auf der anderen Seite war er wütend darüber, wie sein Onkel ihn behandelte, obwohl er, Sano, dem Kumazawa-Klan einen Gefallen erwies. Sano ballte die Fäuste vor Zorn. Er hatte es satt. Seit Jahren wollten andere - auch der Shōgun - seine Dienste in Anspruch nehmen, und legten ihm gleichzeitig Hindernisse in den Weg. Zwar musste Sano dem Ehrenkodex der Samurai gehorchen, dem bushido, und seine Pflichten gegenüber seinem Herrn und seiner Familie erfüllen, egal wie man ihn behandelte und ohne eine Gegenleistung zu erwarten, aber dennoch ...
War er wirklich imstande, die Ermittlungen aufzugeben, bevor sie abgeschlossen waren?
Es konnte jedenfalls nichts schaden, seinen Onkel in diesem Glauben zu lassen.
»Bis jetzt habe ich mein Wort noch nie gebrochen«, sagte Sano, »aber es gibt immer ein erstes Mal.«
15.
Der Shinobazu-See war ein beliebtes Ausflugsziel im Tempelbezirk Ueno. Ein Damm führte vom Ufer aus zwischen blühendem Lotos hindurch zu einer Insel in der Mitte des Sees, auf der sich ein Tempel erhob, welcher der Benten geweiht war, der Shinto-Göttin der Musik, der Kunst und der Gelehrsamkeit. Um den ganzen See herum standen Teehäuser, die neben einem wundervollen Ausblick auch Zimmer für Liebespaare boten, die hier die Nacht verbringen wollten.
Doch an diesem regnerischen Tag lag der See grau und menschenleer vor Hirata. Silberreiher standen im seichten Uferbereich und erhoben sich wie weiße Gespenster zwischen den Lotosblättern im Nebeldunst. Dort, wo der Damm auf den See hinausführte, stapelte sich Bauholz im Uferschlamm. Die Besitzer der Teehäuser standen mit mürrischem Gesicht auf der Veranda und ließen den
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