Der Wunschtraummann
merken nie im Leben, dass einer fehlt. Ich bleibe einfach ein paar Minuten hier stehen, verschnaufe ein bisschen, komme wieder zu Atem, und wenn sie das nächste Mal vorbeilaufen, flitze ich hin und mogele mich wieder dazwischen. Ein genialer Plan! Zufrieden schließe ich die Augen, setze mich ins feuchte Gras und lehne mich gegen den Baum.
»Nummer 34! Wo zum Teufel steckst du?«
Entsetzt reiße ich die Augen auf. Ach du Schande.
»Nummer 34! Ich will dich sehen! Sofort!«
Misti-Mist.
Mir schnürt es die Brust zu. Hätte ich mir doch denken können, dass ich damit nicht durchkomme. Auch wenn es dunkel ist, diese Kursleiter haben Augen in ihren kahlrasierten Hinterköpfen. Denen entgeht nichts.
»Nummer 34.«
Er schreit sich fast die Lunge aus dem Hals, und ich linse vorsichtig hinter dem Baum vor und sehe ihn knapp hundert Meter entfernt stehen. Ein Schrank von einem Kerl in Tarnkleidung wie ein überdimensionaler Kühlschrank, den man olivfarben angemalt hat. Ach du liebes Lieschen. So kann ich unmöglich unbemerkt aus meinem Versteck hervorkommen. Er wird mich erwischen, und dann muss ich zur Strafe eine Million Hockstrecksprünge machen. Ich sitze in der Tinte. Ich muss wohl die Hosen runterlassen. Ich …
Lautes Bellen unterbricht die Abwärtsspirale meiner Gedanken, und ich sehe, wie ein Golden Retriever fröhlich auf meinen Kursleiter zuspringt. Der dreht sich kurz zu ihm um und streichelt ihn.
Ich renne um mein Leben.
Blitzschnell ergreife ich die sich bietende Gelegenheit und sprinte über das Gras. Und Sekunden später spüre ich einen stechenden Schmerz hinten in meinem Bein. »Autsch!«, kreische ich und hüpfe auf einem Bein weiter.
Als er mich schreien hört, dreht mein Kursleiter sich abrupt um, sieht mich und kommt sofort auf mich zugerannt. »Alles okay? Was ist passiert? Lass mal sehen.«
Hätte ich nicht solche Schmerzen, wäre ich ziemlich beeindruckt, wie er mich kurzerhand hochhebt und zu einer Bank trägt, wo er dann fachmännisch mein Bein untersucht. »Sieht aus, als sei es die Kniesehne«, sagt er. »Womöglich ist sie gerissen.«
»Gerissen?«, wiederhole ich beunruhigt.
»Vielleicht auch bloß gezerrt. Das kann ich nicht so genau sagen, aber du solltest auf jeden Fall nach Hause gehen und Eis draufpacken.«
»Wie denn? Jetzt sofort? Vor Ende des Trainings?« Fast vergesse ich die Tatsache, dass ich mich womöglich ernsthaft verletzt haben könnte, so erleichtert bin ich, endlich nach Hause gehen zu dürfen.
»Ja, jetzt sofort«, meint er und nickt schroff. »An deiner Stelle würde ich auch gleich zwei Ibuprofen nehmen. Das hilft gegen die Schwellung.«
»Okay«, nicke ich folgsam und fühle mich wie ein gerügtes Kind. Vorsichtig stehe ich von der Bank auf und humpele zu dem Lieferwagen, um meine Sachen rauszuholen.
»Ach, und eins noch …«
Ich bleibe wie angewurzelt stehen und drehe mich zu dem Kursleiter um, der mich mit verschränkten Armen beobachtet.
»Nächstes Mal solltest du dir lieber ein blaues Leibchen nehmen und zu den Anfängern gehen«, sagt er, zieht eine buschige Augenbraue hoch und schaut mich spitz an.
Verdammt. So viel zu meinem genialen Plan.
»Ähm, ja, gut …«
Na ja, schließlich will ich doch keinem stämmigen über eins achtzig großen Sporttrainer mit Bizepsen wie Weinfässern widersprechen, oder? Dabei weiß ich was, was er nicht weiß.
Es gibt kein nächstes Mal.
Liebes Tagebuch,
bin gar nicht dazu gekommen, Tagebuch zu schreiben, weil ich so viel um die Ohren hatte mit der Hochzeit (und diesem dummen Streit!), dem Strandausflug und dem Konzert (nächstes Mal unbedingt Ohrenstöpsel mitnehmen!!) – es ging alles drunter und drüber! Und dann haben Seb und mein Opa sich kennengelernt!! O weia!! Das ging ziemlich in die Hose und ist überhaupt nicht so gelaufen, wie ich es mir erhofft hatte …
Aber egal, heute schreibe ich, weil es große Neuigkeiten gibt … Trommelwirbel bitte … denn
ich bin VERLIEBT!!!
Sechsundzwanzigstes Kapitel
Zum Glück entpuppt meine gerissene Kniesehne sich als harmlose Muskelzerrung, und die nächsten beiden Wochen vergehen wie im Flug, weil eine wunderbare Verabredung mit Seb die nächste jagt.
Nehmen wir zum Beispiel den Abend, an dem wir zu diesem Konzert gegangen sind. Wie gesagt, es ist eine seiner Lieblings-Indie-Bands, und wie schon beim letzten Mal besteht die ganze Veranstaltung hauptsächlich aus lautem Geschrei und jaulenden Gitarren. Nur bin ich diesmal auf das Schlimmste gefasst, und
Weitere Kostenlose Bücher