Der Wunschzettelzauber
leicht, sich ihre eigene Hochzeit vorzustellen. Es war eben eine unwiderstehliche Gedankenassoziation, oder etwa nicht? Während sie ihre damalige Unterhaltung im Kopf immer wieder durchspielte, umgab sie sie mit einem immer stärkeren Hauch von Romantik.
»Mummy, fährt Guillaume danach wieder nach Hause?«, fragte Nicolas, während er in sein Bett schlüpfte.
»Ja«, antwortete Chloe überrascht. »Natürlich fährt er wieder nach Hause, nach Frankreich. Er hat doch Glück, dass er dort lebt, nicht? Und du bist auch so gern in Frankreich, nicht wahr, mon chéri ?«
»Ich bin gern bei mamie und grand-père und Rosine«, antwortete Nicolas und sah sie ruhig an.
»Natürlich, ich auch. Wäre es nicht schön, wenn wir sie öfter besuchen könnten?«
Nicolas nickte.
»Tja, vielleicht können wir ja beide eines Tages â¦Â« In Frankreich bei Guillaume leben, für immer , ergänzte sie in Gedanken eifrig und unterbrach sich noch rechtzeitig, bevor sie es laut aussprach. Langsam, langsam. Du verwirrst ihn nur . » ⦠als schreckenerregende Piraten mit langen, struppigen Bärten auf einem groÃen Schiff fahren und auf Schatzsuche gehen!«, fuhr sie stattdessen fort.
»Aye-aye, Käptân«, sagte Nicolas, schläfrig lächelnd. Er schloss die Augen und kuschelte sich in seine Decke.
Nicolas würde es sehr wahrscheinlich gut gefallen, bei Guillaume zu leben. Er würde sicher das Landleben für sich entdecken und später auf dem Weingut mitarbeiten und ⦠Chloe riss bei diesen kühnen Fantasiebildern unwillkürlich die Augen auf und legte die Hand über ihren Mund. Würde Nicolas dann Guillaumes Erbe sein? Hey, beruhige dich!
Ihre Gedanken wanderten zu Aurélie, Guillaumes älterer Schwester, die sehr nett zu sein schien. Ob es ihr viel ausmachte, in allen Fragen des Weinguts übergangen zu werden? Erst kürzlich hatte Guillaume in einer E-Mail erwähnt, dass er an einer hochkarätigen Weinverkostung mit Händlern nicht habe teilnehmen können und sein Vater für ihn eingesprungen sei, obwohl der sich eigentlich schon vom Geschäft zurückgezogen hatte. Chloe schüttelte den Kopf. Wie dumm, nicht Aurélie hinzuschicken. Sie hatte damals bei der Weinprobe ein ausgesprochen gutes Gespür für Weine und besaà eindeutig eine sehr feine Nase. Und offensichtlich hatte sie auch ein praktisches Händchen für alles, was auf dem Gut geschah. Dumm, sie von dem Hauptgeschäft der Familie auszuschlieÃen. Nun ja, es ging Chloe eigentlich nichts an.
Was Nicolas und seine Karriere als Winzer betraf ⦠Chloe hatte sich immer geschworen, ihren Sohn in allem zu unterstützen, was er selbst mit seinem Leben anfangen wollte, und nicht zu versuchen, ihn in seiner Wahl zu beeinflussen. Was hätte Antoine sich gewünscht? Sie wusste es nicht. Sie hatten keine Zeit gehabt, darüber zu sprechen. Aber er war Arzt gewesen, also hätte er sich vielleicht gewünscht, dass Nicolas auch Mediziner wurde. Sollte sie ihren Sohn in dieser Richtung unterstützen? Sie runzelte unsicher die Stirn. Dann hellte sich ihr Gesicht wieder auf.
Vor ihrem geistigen Auge sah sie Guillaumes solide gebautes Haus, wie es inmitten des groÃen, alten Weinguts thronte. Die tiefe Verwurzeltheit und Beständigkeit seines Geschäfts, seiner Arbeit mit der Natur â wie wundervoll und beruhigend! Bald entfaltete sich vor ihren Augen ein ganzes Panorama französischer Eleganz, Gediegenheit und Lebenskunst. Im Halbdunkel von Nicolasâ Zimmer schloss sie die Augen und gab sich ihrer Fantasie hin. Dann riss sie sie wieder auf. Sie wusste genug über die Suggestionskraft der Medien, um die Ursprünge dieses Traums von Frankreich zu erkennen: Diese Fantasiebilder stammten geradewegs aus der Illustrierten Marie-Claire Maison .
Nun ja, vielleicht. Na und? Chloe hatte schon immer gern diese Art von Illustrierten durchgeblättert und dabei von einem Bilderbuch-Leben in Frankreich mit einem Bilderbuch-Franzosen geträumt. Und ein solches Leben hatte sie auch gehabt, nur leider allzu kurz. War es denn falsch, es sich noch einmal zu wünschen? Wäre es nicht wunderbar, wieder in diese Welt zurückzukehren, Nicolas im Land seines Vaters aufwachsen zu sehen?
Sie betrachtete ihren Sohn im wechselnden Schein seiner Kaninchen-Nachttischlampe. Er lag auf dem Rücken, die Augen geschlossen,
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