Der Zauberspiegel
glücklich bin. Ich hatte solche Angst«, entgegnete Juliane mit erstickter Stimme und verbarg ihr Gesicht an Arans Schulter. »Ich begann zu glauben, die Silberschnur habe sich aufgelöst und du betrachtest mich wirklich nur als Freund.«
In ihrem Inneren löste sich ein dicker Kloß der Furcht und Ungewissheit.
*
Julianes mädchenhafter Körper schmiegte sich an ihn und ihm fiel das Atmen immer schwerer.
Wie dumm von ihm. Wie hatte er nur glauben können, dass alles besser wäre, wenn er sich von ihr fernhielt?
»Juliane, meine liebe, süße Juliane«, murmelte er und sog den Geruch ihrer Haare ein. Er spürte die festen Rundungen unter ihrem dünnen Hemd und er fühlte Erregung in sich aufsteigen. Er streichelte ihre Haare, denen der flackernde Feuerschein einen goldenen Schimmer verlieh. Er schob sie ein Stück von sich und küsste ihre Tränen fort. Juliane hob ihm erwartungsvoll ihre Lippen entgegen, doch Aran strich nur mit einer zarten Berührung seiner Finger darüber. Es berauschte ihn, dass sie sich ihm so unverblümt schenken wollte. Obwohl sie wusste, wer und vor allem, was er war. Seine Hände waren nicht die eines unschuldigen Jünglings. Sie troffen vor Blut. Dem Blut Unschuldiger, aber auch dem der Todesreiter. Und seine Seele würde sich ihr als finsterer Ort präsentieren, ließe er zu, dass sie hineinblickte. Nur deshalb hatte er sich vor ihr verschlossen und die silberne Schnur, soweit es ihm möglich war, unterdrückt, sodass Juliane Schwierigkeiten gehabt hatte, sie wahrzunehmen. Ein Fehler, wie er nun begriff. Er hatte ihr damit Seelennöte beschert, die sie nicht verdiente.
»Warum küsst du mich nicht?«
Aran hielt mit seinen Streicheleinheiten inne und rückte ein wenig von Juliane ab.
»Mit einem Kuss würde ich einen Teil von dir nehmen, den ich nicht verdiene.«
»Wovor hast du Angst? Was hindert dich daran? Ich schenke dir diesen Kuss«, entgegnete sie leise. Ihre Wangen röteten sich und die Augen glänzten feucht, blau schimmernde Tore zu ihrer Seele.
»Ich könnte dich verlieren. Ich ertrage nicht einmal den Gedanken daran«, flüsterte er und zog sie erneut in seine Arme.
Sie ahnte es nicht! Sie wusste nicht, dass ein Kuss ihre Seelen unwiderruflich verschmelzen würde. Sie kannte nicht die Folgen, wenn die silberne Schnur sie aneinanderfesselte.
Er würde es ihr erzählen, später. Er würde ihr vom Glück derartiger Zusammenführungen berichten und vom Verderben, in das sie eine vollzogene Verbindung führen konnte.
Glücklich erwiderte Juliane die Umarmung. Lange Zeit saßen sie fest umschlungen auf ihrem Bett, bis sie das Schweigen brach.
»Du hast mir nie von deiner Familie erzählt.«
Aran schwieg eine Weile, bis er mit zaudernder Stimme bekannte: »Ich habe noch nie jemandem von meiner Familie erzählt.«
Sie lehnten sich an das Kopfende des Bettes. Aran legte seinen Arm um Juliane und sie kuschelte sich an ihn. Ihre Wange ruhte auf dem rauen Stoff seines Hemdes. Sein Herz begann rascher zu schlagen. Ihre Wärme und ihr Geruch umgarnten ihn. Als sie sich bewegte, streifte ihn eine Strähne ihres langen Haares und er unterdrückte einen wohligen Seufzer.
Mit leiser, unsicherer Stimme begann er von seiner Familie zu berichten und je länger er redete, umso fester und sicherer klang er.
Aran erzählte von seinem Vater Nadroj, einem groß gewachsenen Weißen, der gern lachte und sang. Von seiner temperamentvollen Mutter Tala, die ebenso schön wie klug war. Zuletzt sprach er über seine Schwester Taleen, die das blonde Haar und das ruhige, sonnige Gemüt ihres Vaters geerbt hatte. Er berichtete von der stummen Verehrung, mit der sie an ihm gehangen hatte.
Er hörte selbst, dass in seiner Stimme sehr viel Zärtlichkeit lag, und dass es unmöglich erschien, dass er mitleidslos zu töten verstand.
Aran erwachte kurz nach Sonnenaufgang mit steifen Gliedern. Seit dem Tod seiner Eltern hatte er nicht mehr diese innere Zufriedenheit gespürt. Seine Aufgewühltheit ruhte und es fühlte sich gut an.
Irgendwann im Lauf der vergangenen Nacht war er neben Juliane eingeschlafen. Ihr Kopf ruhte auf seiner Schulter. Er beobachtete sie. Eine sonnengebleichte Strähne ihres dunkelblonden Haars hing in ihr Gesicht und Aran strich sie zurück. Ihre vollen Lippen waren leicht geöffnet. Auf der Nase saßen ein paar helle Sommersprossen, ihre langen, schwarzen Wimpern lagen wie Halbmonde auf ihrer Haut. Rechts über ihrer Augenbraue befand sich eine kleine Narbe, die Aran
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