Der Zeitdieb
zu
wissen lohnt…«
»Ich habe ihre Adresse, wenn du das meinst. Wenn du meinen Namen
nennst… Oh, das meinst du offenbar nicht.«
»Ich möchte nicht undankbar sein. Ich dachte nur…«
»Deiner Ansicht nach sollte ich meine Beine mit geheimnisvollen
Mächten wärmen, die ich während jahrhundertelanger Studien erworben
habe?«
»Nun…«
»Du hältst es für angebracht, mit geheimen Lehren die Situation
meiner Knie zu verbessern?«
»Wenn du es so ausdrückst…«
Etwas veranlasste Lobsang, den Blick zu senken.
Er stand in fünfzehn Zentimeter tiefem Schnee. Im Gegensatz zu Lu-
Tze. Dessen Sandalen befanden sich in zwei Pfützen. Der Schnee
schmolz an den Zehen – an rosaroten, warmen Zehen.
»Die Zehen sind eine andere Angelegenheit«, sagte der Kehrer. »Mit
den Beinen der langen Unterhosen kommt Frau Kosmopilit
ausgezeichnet klar, aber mit Fersen und Zehen hat sie noch immer
Probleme.« Lobsang hob den Kopf und sah, wie Lu-Tze zwinkerte.
»Denk immer an Regel Nummer Eins.«
Der Kehrer klopfte auf den Arm des verdutzten Jungen. »Du machst
deine Sache ganz gut«, sagte er. »Ich schlage vor, wir legen jetzt eine Pause ein und kochen uns Tee.« Er deutete auf einige Felsen, die
zumindest Schutz vor dem Wind boten. Schneewehen hatten sich dort
gebildet.
»Lu-Tze?«
»Ja, Junge?«
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»Ich habe eine Frage. Kannst du mir eine klare Antwort darauf geben?«
»Ich werd’s natürlich versuchen.«
»Was passiert hier eigentlich?«
Lu-Tze strich ein wenig Schnee von einem Felsblock.
»Oh«, erwiderte er. »Eine der schweren Fragen.«
Igor musste es zugeben: Wenn es darum ging, sonderbare Dinge zu
bewerkstelligen, errang die Rationalität selbst mit gefesselten Händen den Sieg über den Wahnsinn.
Er hatte für Herren gearbeitet, die zwar wundervolle Handstände am
Rand der geistigen Katastrophenkurve vollführten, ihre eigene Hose aber nur mit einer Bedienungsanleitung anziehen konnten. Wie alle Igors
hatte er gelernt, damit zurechtzukommen. Eigentlich war es kein
schwieriger Job (auch wenn man manchmal nachts und auf Friedhöfen
arbeiten musste), und sobald man dem jeweiligen Herrn zu einer
gewissen Routine verholfen hatte, konnte man sich mit eigenen Dingen befassen, ohne Einmischungen befürchten zu müssen – bis es
erforderlich wurde, den Blitzableiter aufs Dach zu bringen.
Bei Jeremy lag der Fall ganz anders. Er war im wahrsten Sinne des
Wortes jemand, nach dem man die Uhr stellen konnte. Nie zuvor hatte
Igor ein so gut organisiertes Leben gesehen, in dem alles nach Plan lief, zeitlich bestens aufeinander abgestimmt. In Gedanken nannte er seinen neuen Herrn den Ticktack-Mann.
Einer von Igors früheren Herren hatte einen Ticktack-Mann gebaut, ausgestattet mit Hebeln, Zahnrädern, Kurbeln und Uhrwerk. Ein langer Papierstreifen mit Löchern ersetzte das Gehirn, und eine große Feder bildete das Herz. Wenn in der Küche alles genau am richtigen Platz war, konnte der Apparat den Boden fegen und eine passable Tasse Tee
kochen. Wenn die Dinge nicht am richtigen Platz waren oder wenn das tickende, klickende Ding gegen ein unerwartetes Hindernis stieß, so riss es den Putz von den Wänden und kochte eine Tasse Katze.
Dann war der Herr auf die Idee gekommen, dem Apparat Leben
einzuhauchen, damit er selbst Löcher in Papierstreifen stanzen und die Feder von ganz allein aufziehen konnte. Igor wusste, wenn es angesagt 150
war, Anweisungen ganz genau zu befolgen. Er hatte die klassische
Gekippter-Tisch-mit-Blitzableiter-Apparatur während eines besonders
guten Gewitters eingesetzt. Er wusste nicht genau, was anschließend
passiert war, denn er weilte nicht am Ort des Geschehens, als der Blitz das Uhrwerk traf. Zu jenem Zeitpunkt hatte Igor den Hügel bereits
verlassen und die Hälfte des Weges zum Dorf zurückgelegt, mit allen
seinen Habseligkeiten in der Reisetasche. Trotzdem raste ein weiß
glühendes Zahnrad über ihn hinweg und bohrte sich in einen
Baumstamm.
Die Loyalität dem Herrn gegenüber war sehr wichtig, aber sie kam erst hinter der Loyalität, die der Igorheit galt. Wenn die Welt voller hinkender Diener sein sollte, so gehörte es sich, dass sie den Namen Igor trugen.
Dieser Igor fand: Wenn man einem Ticktack-Mann Leben einhauchen
konnte, so würde er wie Jeremy sein. Und Jeremy tickte immer schneller, je näher die Fertigstellung der Uhr rückte.
Die Uhr gefiel Igor nicht sonderlich. Er war eher auf Leute fixiert, auf Dinge, die bluteten. Und
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