Der Zeitenherrscher
Sie lachten und schrien vor Erleichterung. Caspar warf vor Freude die Hände in die Luft, und Salomon brüllte Simon grinsend zu: „Hah – von wegen aufgeben!“
Sie sprangen von ihren Pferden und kletterten nacheinander die Strickleiter hinauf. Simon bemerkte aus dem Augenwinkel, wie Moon sich noch die Zeit nahm, sich bei den Pferden zu bedanken. Er strich ihnen über den Hals, drückte sein Gesicht in das Fell eines jeden Tieres und flüsterte einen indianischen Spruch.
„Los, komm schon!“ Nervös und ungeduldig erinnerte Simon seinen Freund an die verrinnende Zeit. Moon kletterte hastig die Strickleiter hinauf, und Simon folgte ihm als Letzter.
Erschöpft ließ er sich über die Reling fallen.
Kaum hatte er das Schiffsdeck berührt, da spürte er auch schon eine unbändige Müdigkeit in sich. So wie seine Freunde ließ auch Simon sich auf das Deck fallen und streckte sich vollkommen erschöpft auf den Schiffsplanken aus.
Das Einzige, was er noch sah, war das letzte Sandkörnchen, das aus dem oberen Glas in das untere fiel.
In einer Zeit lange vor der Zeit
I N EINER Z EIT LANGE VOR DER Z EIT
Nur ganz langsam kam Simon zu sich. Er erwachte aus einem tiefen Schlaf. Einem Schlaf ohne Träume, ohne Bilder oder Visionen. Sein Körper hatte sich Kraft zurückgeholt. Und Simon fühlte sich entsprechend frisch und ausgeruht.
Er erhob sich von seinem Platz und ging an die Reling. Das Schiff lag auf dem Meer, und wieder einmal sah er sich zu allen Seiten von nichts als Wasser und Wellen umgeben.
Wie lange mochte er wohl geschlafen haben? Simon schüttelte diesen Gedanken schnell wieder ab. Auf diesem Schiff war das die falsche Frage. Zeit war hier etwas völlig anderes als in Simons bisherigem Leben. Raum und Zeit hatten hier nicht die Bedeutung wie zu Hause. Wieder einmal fragte sich Simon, wo sie sich wohl befanden, wenn sie – wie in einer Warteposition – auf diesem Meer trieben. Und in welcher Zeit? Oder verharrten sie nur in einem Teil des Schattengreifer-Universums? Gefangen auf dem Schiff, gefangen in dessen Magie?
Je länger ich auf diesem Schiff bin, umso weniger verstehe ich das alles, dachte Simon frustriert.
Er blickte sich auf dem Schiff um. Die Zeitenkrieger schliefen noch. Sie lagen auf dem Deck, an genau den Stellen, an denen sie sich vor der Reise hatten fallen lassen, und sogar in denselben Positionen. Anscheinend hatte auch von ihnen keiner die üblichen körperlichen Strapazen der Rückreise bewusst mitbekommen.
Simon schaute voller Mitgefühl auf seine Freunde. Auch sie hatten so viele Fragen. Keiner von ihnen wusste, was genau auf diesem Schiff vor sich ging oder was der Schattengreifer im Schilde führte.
Simons Blick ruhte lange auf Moon. Es tat ihm unendlich leid, dass sie es nicht geschafft hatten, den Indianer aus derMacht des Schattengreifers zu befreien. Es tat ihm leid, dass Moon all das hatte erleben müssen, was er erlebt hatte.
Simon ließ seinen Blick weiterwandern, den vorderen Mast hinauf, bis zu dem Mastkorb, aus dem heraus die Flammen der Fackeln zuckten.
War auch sie wieder hier?
Simon strengte sich an und versuchte, im Mastkorb den Schnabel zu entdecken oder einen ihrer Flügel. Zu gern hätte er das Gespräch mit der kleinen Krähe wieder aufgenommen. Bei seinem ersten Besuch auf diesem Schiff waren sie unterbrochen worden, gerade in dem Moment, als die kleine Krähe sich ihm anvertrauen wollte. Nun hätten sie Gelegenheit, das Gespräch fortzusetzen.
Unwillkürlich musste Simon kichern. Wie verrückt das alles war. Noch vor einem Jahr hatte er auf diesem Deck gesessen und an seinem Verstand gezweifelt, weil er nicht glauben konnte, dass diese kleine Krähe überhaupt sprechen konnte. Und nun stand er hier und hoffte inständig auf ein Gespräch mit diesem Vogel, um Antworten auf seine dringendsten Fragen zu bekommen.
Wie schnell man sich doch an Gegebenheiten gewöhnen konnte. Auch wenn sie noch so ungewöhnlich oder gar verrückt waren.
Gerade jetzt hoffte Simon darauf, dass die Krähe hier war. Gerade nach allem, was am Wounded Knee passiert war, wollte er seine Fragen stellen.
Er umrundete den Mast, den Kopf in den Nacken gelegt, seinen Blick starr nach oben auf den Mastkorb gerichtet, und endlich entdeckte er, was er so sehr herbeisehnte: eine Bewegung. Etwas hatte sich in dem Mastkorb geregt. Simon glaubte, einen Flügel erkannt zu haben.
Er ging zur Bordwand, schwang sich auf die Reling und kletterte in die Wanten. Er wollte zu ihr. Da die
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