Der Zorn Des Skorpions
gesorgt, dass seine Lieblingsgerichte und -getränke vorrätig waren, dann war sie am Morgen mit ihrem Sohn zu ihrer Schwester gefahren, um vorzeitig Weihnachtsgeschenke auszutauschen, da die Schwester bis nach Neujahr verreisen wollte. Ross, ein ziemlich stiller, gelangweilter Halbwüchsiger, mit Sonnenbrille und Strumpfmütze bekleidet, hatte den Aussagen seiner Mutter mürrisch zugestimmt, und ein rascher Anruf bei der Schwester bestätigte, dass Clementine und Ross den ganzen Vormittag außer Haus gewesen waren.
Longs Tod schien Ross nicht weiter zu berühren, doch Clementine war außer sich gewesen, hatte geweint und geschluchzt, Papiertaschentücher zerfetzt und die Hände gerungen. Offenbar trauerte sie um einen Mann, der mehr Feinde als Freunde hatte, falls der Großteil ihrer Quellen, Grayson und sogar Nate Santana eingeschlossen, glaubwürdig war.
Doch Clementine war so untröstlich, als wäre sie seine Mutter.
Oder seine Frau.
Alvarez kam der Gedanke, dass Clementine DeGrazio für Brady Long vielleicht mehr gewesen war als nur die Hauswirtschafterin. Das musste überprüft werden. Jetzt allerdings musste sie sich erst einmal Grace Perchant vornehmen.
Auf der winzigen Veranda klopfte sie an die Haustür und hörte ein tiefes Knurren auf der anderen Seite der Tür. Ja, richtig. Grace hielt Wölfe oder Halbwölfe, Kreuzungen oder so. Vermutlich würde sie diese jedoch in Schach halten.
»Sheena, still!«, befahl eine Frauenstimme, und unverzüglich hörte das Knurren auf. Im nächsten Moment öffnete Grace die Tür. »Detective.« Sie trug eine lange Strickjacke über dicken Strümpfen und einem schwarzen Rollkragenpulli und lächelte äußerst spärlich. »Ich hatte gehofft, dass Sie sich melden oder mich aufsuchen.« Sie gab die Tür frei und neigte den Kopf. Eine feine graue Haarsträhne löste sich aus dem Knoten auf ihrem Kopf. »Treten Sie ein.«
Der Hund, Sheena, lag auf einem Polster neben einem antik aussehenden staubigen Sofa. Im Kamin brannte ein munteres Feuer. Sämtliche Fensterbänke und Beistelltische waren vollgestellt mit eingetopften kleinen Rankpflanzen und sanft leuchtenden Kerzen, von denen Wachs tropfte. Eine Zündholzschachtel lag bereit.
»Sie kommen wegen Ihrer Partnerin. Bitte nehmen Sie Platz.« Grace wies Alvarez einen Sessel zu, und der Hund beobachtete zwar jede ihrer Bewegungen, stand jedoch nicht auf.
»Vor ein paar Tagen im »Wild Will’s« haben Sie mich und Pescoli gewarnt, dass sie entführt werden würde. Ich glaube, Sie haben wörtlich gesagt: ›Er ist erbarmungslos. Ein Jäger‹, und Sie meinten damit den Unglücksstern-Mörder. Sie sagten, Sie hätten eine Stimme gehört, und diese Stimme hätte gesagt: ›Regan Elizabeth Pescoli‹, und Sie haben sie berührt und gesagt, sie befände sich in ›Lebensgefahr‹. Ich glaube, das war alles.«
»Sie haben ein gutes Gedächtnis. Ja. Und ich hatte recht«, betonte sie und setzte sich in einen Sessel beim Feuer und dem Hundekorb, in dem Sheena sich zusammengerollt hatte und nun langsam die goldenen Augen schloss.
»Wie konnten Sie das wissen?«
»Auf die übliche Art und Weise. Ich habe es teilweise gesehen. In einer Art Traum.«
»Ich habe immer nur gehört, Sie würden mit den Toten kommunizieren.« Alvarez wählte ihre Worte mit Bedacht. »Sie haben also auch Träume?«
Grace blickte aus dem Fenster, in deren vereisten Scheiben sich die Kerzenflammen spiegelten. »Nein. Gewöhnlich nicht, aber die Toten gestatten mir Einblicke, wenn sie mit mir reden …« Sie lächelte ein bisschen traurig, als wüsste sie, dass es verrückt klang. »Vor ein paar Tagen habe ich eine Stimme gehört, die Stimme eines toten Mädchens. Des Mädchens, das Sie im Wildfire Canyon gefunden haben. Die Friseurin.«
Die feinen Härchen in Alvarez’ Nacken richteten sich auf. Fassungslos sah sie Grace an. »Mandy Ito? Sie hat mit Ihnen gesprochen?«
»Ja.«
»Wann?«
»Vor ein paar Tagen.«
»Wie?«
Grace wandte sich wieder der Polizistin zu, und der Blick ihrer hellen Augen schien bis auf den Grund von Alvarez’ Seele zu dringen. »Ich habe sie gehört.«
»Woher wussten Sie, wer sie war?«
»Ich habe ihr Gesicht gesehen. Blau und starr von Frost. Sie hat mit mir gesprochen, aber ihre Augen bewegten sich nicht, ihre Lippen auch nicht. Sie hat mich gewarnt. Nannte den Namen Ihrer Partnerin. Als ich sie fragte, woher sie das wüsste, erklärte sie, sie hätte einiges gesehen. Dokumente. Von verschiedenen Frauen. Das einzige
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