Der Zorn Des Skorpions
Bianca war sich darin jetzt nicht mehr so sicher.
»Okay, was ist los?«, wollte ihr Vater wissen.
»Ich wollte heute Abend nur zu einem Weihnachtskonzert«, beschwerte sie sich, verschränkte die Arme unter der Brust und schmollte.
»Daraus wird wohl nichts.«
»Warum nicht?«
Ihr Vater sah sie an, als hätte sie den Verstand verloren, und traktierte sie dann mit den gleichen lahmen Argumenten wie zuvor Michelle. Das Wetter war schlecht. Sie war zu jung. Jeremy war bereits als Minderjähriger beim Genuss von Alkohol erwischt worden und steckte in großen Schwierigkeiten und bla, bla, bla. Das war das Problem, wenn man die Zweitgeborene war: Der Erste verdarb einem alles.
»… wenn Chris also hierherkommen und … abhängen mag … irgendwas spielen oder so … das wäre in Ordnung.«
»Irgendwas spielen?« Sie verdrehte die Augen. Für wie alt hielt er sie? Für sieben?
»Okay, meinetwegen auch fernsehen oder …« Er schielte zur Küche, als hoffte er, Michelle würde auftauchen und ihm mit irgendeiner richtig tollen Idee aus der Klemme helfen, und Bianca erkannte, dass ihr Vater sie überhaupt nicht verstand. »Komm schon, Schatz. Ruf Chris an und frag ihn, ob er kommen möchte. Ich sollte ihn sowieso mal kennenlernen. Wir können ja Pizza machen oder … Spaghetti … oder …«
»Pizza. Machen wir Pizza.« Michelle steckte den Kopf durch den Türspalt. »Ich habe Pizza im Gefrierschrank, und im Vorratsraum sind noch Peperoni und Oliven.«
»Juchhu!« Bianca zeigte ihr den Vogel.
Michelle zog sich mit finsterer Miene wieder zurück.
Dad wurde knurrig. »Du bleibst zu Hause. Und Jeremy ebenfalls, sobald ich ihn gefunden habe. Bis wir wissen, was deiner Mom zugestoßen ist, will ich, dass ihr beide zu Hause bleibt. Kapiert?«
Wieder musste sie gegen die dummen Tränen kämpfen.
»Hast du kapiert, Spätzchen?«
»Ja!« Sie konnte nur hoffen, dass er diesen blöden Kosenamen nie,
niemals
in Chris’ Gegenwart benutzte. Das war einfach nur ekelhaft. Sie marschierte in ihr Zimmer, knallte die Tür zu und warf sich auf ihr Bett. Sie schniefte gegen die Tränen an, griff nach ihrem Handy und gab Jeremys Kurzwahl ein. Vielleicht konnte der sie hier herausholen.
Schon den ganzen Tag über hatte sie versucht, ihn zu erreichen, aber er hatte sich nicht gemeldet, deshalb schickte sie ihm eine SMS :
Wo bist du? Hol mich hier raus. SOFORT.
Sie erwog, nähere Informationen hinzuzufügen, schickte den Text dann jedoch einfach ab und betete, dass er ankam. Jeremy ging ihr gehörig auf den Zeiger. Meistens war er ein schrecklicher Nullpeiler, aber er war ihr Bruder, und er wusste, wie ihr Dad nerven konnte.
Bianca hatte Michelle immer für ganz in Ordnung gehalten, doch jetzt änderte sie spontan ihre Meinung. Wieso fing sie an, Regeln aufzustellen und sich aufzuführen, als wäre sie ihre Mutter? So ein Quatsch. Mom konnte eine Nervensäge sein, aber sie war immerhin ihre Mutter. Wenn Michelle versuchte, elterliche Autorität auszuüben, dann haute das nicht hin.
Bianca wälzte sich auf den Rücken und starrte die Decke an. Sie dachte an ihre Mutter, und bei der Vorstellung, dass Mom in ernsten Schwierigkeiten steckte, wurde ihr innerlich eiskalt.
Dann versuchte sie, Chris zu erreichen.
Vielleicht würde er tatsächlich zu ihr kommen … Die Einladung zur Pizza war schon irgendwie öde, aber sie brauchte ihn jetzt, wirklich.
Im Mountain View Hospital ließ Dr. Jalicia Ramsby auf dem Weg durch den Flur zu ihrem Schreibtisch die Schultern kreisen, um die Verspannungen im Nacken zu lockern. Sitzungen hatten ihren Vormittag ausgefüllt, zuerst mit ihrer Frauengruppe, bestehend aus fünf Frauen, die in ihren Beziehungen Gewalttätigkeit erlebt hatten, danach eine Konferenz der Verwaltung, in der sie angewiesen wurde, in ihrer Abteilung Kosten einzusparen, wodurch sie wahrscheinlich mindestens eine Pflegekraft verlor. »Die Zeiten sind schlecht«, hatte Hedgewick, der Verwaltungsleiter, sämtliche Abteilungsvorstände wissen lassen. »Der wirtschaftliche Verfall fordert einen hohen Tribut.«
»Trotzdem werden Menschen krank. Und psychische Erkrankungen müssen behandelt werden«, wandte Ramsby ein, worauf einige Kollegen zustimmend murmelten.
Hedgewick gab sich betroffen, schürzte die Lippen, seine Augen hinter der Lesebrille wurden dunkel, er faltete die Hände auf der glatten Schreibtischplatte und seinen säuberlich getippten Papieren. »Das ist ja die Herausforderung in unserem Beruf«, sagte
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