Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Zuckerkreml

Der Zuckerkreml

Titel: Der Zuckerkreml Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Vladimir Sorokin
Vom Netzwerk:
sich in der heißen ostsibirischen Luft wie flüssiges Metall,
     zerriss die ewige Stille der Hügel und des Himmels, übertönte die monotonen
     Arbeitsgeräusche der Maurer, das Knirschen des Seilzugs, das Murren des
     Vorarbeiters, das Sirren der Mücken, die durch ein kreisförmiges Ultraschallfeld vom
     Arbeitsbereich ferngehalten wurden, floss hinüber zu den Hügeln mit dem schütteren
     Kiefernbewuchs, schwappte an ihnen zurück und kam wieder, um ein zweites Mal
     zurückgeworfen zu werden – nunmehr von der im Bau befindlichen Mauer, die sich als
     durchgehender weißer Streifen über die Hügel zog und am welligen blauen Horizont
     dahinter verlor.
    »Halts Maul, Vogelscheuche! Verrecken sollst du …«
    San Sanytsch rieb sich die schweißige Stirn und spuckte in
     Richtung des gellenden Lautsprechers – ohne dass in seiner ausgetrockneten Mundhöhle
     Spucke vorhanden war.
    Er zog eine Plastikwasserflasche aus der Knietasche seiner
     Arbeitskluft, schob den weichen Pfropfen aus lebendgebärendem Gummi mit dem Daumen
     beiseite und setztedie Flasche gierig an die dörren Lippen. Das
     warme Wasser gluckerte in seine Kehle; der von grauen Stoppeln bewucherte Adamsapfel
     zuckte wie im Schmerz.
    »Sabbat, ihr Rechtgläubigen!«, rief Sawoska, ein großer,
     gebeugter, schmalschultriger Mann, und steckte die Maurerkelle in den Plastikbottich
     mit dem Mörtel; ächzend richtete er sich auf, rieb sich das Kreuz.
    »Genug!«, rief er, sich aus dem Gerüst lehnend, nach
     unten.
    Botscharow und Sanjok, die dort am Seilzug arbeiteten, der
     die weißen Hohlblocksteine nach oben beförderte, brachten das Rad sogleich zum
     Stehen. Der Korb mit den Steinen blieb in der Luft hängen. Blinzelnd, die Augen mit
     der schweren, braun gebrannten Hand schirmend, blickte Botscharow zur Mauer hinauf.
    »Wollt ihr die nicht noch rausnehmen?«
    »Nein. Lass wieder runter!«, entgegnete Sawoskas Partner
     Silberstein, Spitzname Hufeisen, mit Hinkebein, krummer Nase und ewig verdrossener
     Miene, und spuckte nach unten. »Die Arbeit ist kein Wolf und läuft nicht weg, das
     Fressen kein Laowai 8 , der von alleine kommt!«
    »Inschallah! Schon zwölf?«, rief der breitstirnige, kahl
     rasierte Timur freudig und ließ beim Grinsen die zahnlosen Kiefer sehen.
    »Sei froh, dass es nicht schon eins ist, Junge«, erwiderte
     Sawtschenko, sehnig und mit auffällig großer Nase, müde lächelnd auf Ukrainisch und
     streifte die anhaftenden Mörtelreste von seiner Hand in den Eimer, während er, in
     den klaren, wolkenlosen Himmel spähend, hinzufügte: »Aber ich seh unsre Erzengel ja
     gar nicht. Wo bleiben sie denn?«
    Und wie auf Kommando erschienen über der Ketteblaugrüner Hügel in der Ferne drei Punkte. Kurz darauf war
     Hubschraubergebrumm zu vernehmen.
    »Da kommt er, der Gute!«, raunte der stille Petrow –
     untersetzt, blasshäutig, weißblond – und passte einen Stein in das Mörtelbett, fing
     mit der Kelle den hervorquellenden Mörtel auf und warf ihn zurück in den Bottich,
     worauf er die Kelle an der Stirnseite des neuen Steins säuberte. »Gepriesen seist
     du, allmächtiger Herr, dass wir das Mittagessen noch erleben …«
    »Dann schieben wir uns mal was zwischen die Kiemen,
     verdammte Scheiße. Vornehm geht die Welt zugrunde!«
    Sawoska zog die mörtelgrauen Handschuhe aus, hängte sie
     über eine Querstrebe.
    »He, Scheff, was machen mit die Mörtel?«, fragte der
     knochige, großäugige, kahl geschorene Salman vom Gerüst, warf seine Kippe weg und
     kratzte sich die behaarte Drosselgrube unter dem silber glänzenden
     Sicherheitshalsband.
    »Lassen!«, befahl Vorarbeiter Slonow, ein äußerlich
     unscheinbarer, kleiner, dürrer Mann mit ewig schwitzender Schnabelnase, lauter
     Stimme, huschenden Augen und flinken, knotigen Fingern, die nie Ruhe fanden. Er nahm
     die blaue Häftlingsmütze vom Kopf und rieb sich die schweißnasse Glatze, dabei äugte
     er misstrauisch den eintreffenden Hubschraubern entgegen.
    Der eine kam wie immer direkt auf sie zugeflogen, die
     beiden anderen hielten sich seitwärts – einer nach links zu Tschekmasows Truppe, der
     andere nach rechts zu den Leuten von Prowotorow, dem buckligen Scherzbold.
    Der Hubschrauber näherte sich. Dunkelgrün lackiert, mit
     dem goldenen Doppelkopfadler an der Flanke, daneben in weißen Lettern: MAUER-Ost-182.
    »Häftlinge zum Essenfassen!«, bellte der Lautsprecher und
     verstummte.
    Slonows Brigade stieg von den Gerüsten, die aus roten

Weitere Kostenlose Bücher