Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Zusammenbruch

Der Zusammenbruch

Titel: Der Zusammenbruch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Emile Zola
Vom Netzwerk:
alle Türen; ein ganzer Strom von Bürgern, die vor Angst, zu spät zu kommen, schwitzten – sie hatten beschlossen, doch noch zu versuchen, mit einem vollgepfropften Wagen nach Bouillon in Belgien durchzukommen, wohin halb Sedan seit zwei Tagen ausgewandert war. Gefühlsmäßig wandte sie sich nach der Unterpräfektur, als ob sie dort sicher Auskunft erhalten würde; und da sie jede Begegnung zu vermeiden wünschte, kam sie auf den Gedanken, einen Richtweg durch Nebenstraßen einzuschlagen. An der Rue du Four und Rue des Laboureurs konnte sie nicht durchkommen: hier standen Geschütze in endloser Reihe mit Protzen und Munitionswagen; sie mußten wohl gestern in diesem Winkel untergebracht worden sein und waren nun scheinbar vergessen worden. Auch nicht ein einziger Mann war zu ihrer Bewachung da. Ihr Herz erkältete sich beim Anblick all dieser unnützen, trübselig aussehenden Geschütze, die hier unten in diesen einsamenStraßen den Schlummer der Verwahrlosung schliefen. Sie mußte also über den Schulplatz nach der Großen Straße umkehren, wo vor dem Gasthaus de l'Europe Meldereiter auf höhere Offiziere warteten, deren laute Stimmen aus dem blendend erhellten Speisesaal tönten, und ihre Pferde an der Hand hielten. Auf dem Turenneplatz und dem Uferplatz sah sie noch mehr Leute; voller Unruhe standen hier Einwohner gruppenweise zusammen, und Frauen und Kinder mischten sich unter die aufgelösten, verstört dreinblickenden Truppen; hier sah sie auch einen General fluchend aus dem Wirtshause Zum goldenen Kreuz herauskommen und wütend davongaloppieren auf die Gefahr hin, alles über den Haufen zu reiten. Einen Augenblick war ihr so, als sollte sie ins Stadthaus gehen; dann aber schlug sie die Maasbrückenstraße ein, um bis zur Unterpräfektur zu gelangen.
    Noch nie war ihr Sedan so traurig vorgekommen, als wie es jetzt bei dem schwachen, trüben Tageslicht im Nebel versank. Die Häuser sahen wie tot aus, viele standen seit zwei Tagen verlassen und leer, andere blieben infolge der ängstlichen Schlaflosigkeit ihrer Einwohner luftdicht verschlossen. Es war ein frostiger Morgen, an dem die noch halbleeren Straßen nur von angsterfüllten, sich jäh voneinander losreißenden Schatten belebt schienen, sowie von allerhand verdächtigem Gesindel, das seit gestern schon herumschlich. Aber das Tageslicht mußte zunehmen und die dem Unglück geweihte Stadt sich beleben.. Es war halb sechs; der Geschützdonner war kaum zu hören, so wurde er zwischen den hohen, schwarzen Häusern gedämpft.
    Henriette kannte die Tochter der Schließerin in der Unterpräfektur, die kleine blonde Rosa mit ihrem niedlichen, zarten Gesicht, die in Delaherches Fabrik arbeitete. Sie gingsofort in ihr Gelaß. Die Mutter war nicht da, aber Rosa nahm sie freundlich auf.
    »Ach, meine liebe Frau Weiß, wir können uns nicht mehr auf den Beinen halten, Mutter hat sich eben ein wenig hingelegt. Denken Sie mal, die ganze Nacht haben wir auf sein müssen bei dem ewigen Herein und Heraus!«
    Und ohne irgendwelche Frage abzuwarten, erzählte sie wie im Fieber von all den außergewöhnlichen Vorgängen, die sie seit gestern mit angesehen hatte.
    »Der Marschall, der hat gut geschlafen. Aber der arme Kaiser! Nein, Sie können sich nicht denken, was der leidet! ... Denken Sie nur, gestern abend ging ich hinauf, um beim Wäscheausgeben zu helfen. Wie ich da an dem Zimmer vorbeikam, das an sein Ankleidezimmer stößt, habe ihn ich stöhnen hören! Stöhnen, als ob einer im Sterben läge. Ich bin vor Zittern stehengeblieben; das Herz wurde mir wie Eis, als ich merkte, daß das der Kaiser wäre... Er leidet scheinbar an einer scheußlichen Krankheit, daß er so schreien muß. Wenn jemand bei ihm ist, ist er still; aber sowie er allein ist, dann ist es ihm über und er muß schreien und jammern, daß einem die Haare zu Berge stehen.«
    »Wo wird denn heut' morgen gefochten, wissen Sie das?« fragte Henriette und versuchte sie zu unterbrechen.
    Rosa wies die Frage mit einer Handbewegung von sich und fuhr fort:
    »Nun können Sie sich wohl denken, ich wollte doch gern was wissen und bin vier- oder fünfmal in der Nacht nach oben gegangen und habe das Ohr an die Wand gelegt... Er jammerte immer weiter, unaufhörlich, ohne die Augen auch nur eine Minute zuzumachen, bin ich sicher... Nicht wahr? Ist das nicht schrecklich, so leiden zu müssen bei all dem Ärger,der ihm durch den Kopf gehen muß! Denn das ist ein Durcheinander und ein Geschubse! Sie sehen wahrhaftig

Weitere Kostenlose Bücher