Der Zusammenbruch
ungewohnte Geräusche; rasches Galoppieren, fortgesetztes Rollen zogen wie Todesschauer an ihr vorüber.Sie horchte, ihr Herz schlug gewaltig, aber noch immer konnte sie den Schritt ihres Mannes an der Straßenecke nicht erkennen.
Stunden vergingen, und sie beunruhigte sich jetzt über einen Feuerschein in der Ferne, den sie jenseits der Wälle in der Umgebung wahrnahm. Es war so dunkel, daß es ihr Mühe machte, sich zu vergegenwärtigen, wo es sein könne. Die große blasse Fläche dort unten waren jedenfalls die überschwemmten Wiesen. Was konnte denn das wohl für ein Feuer sein, das sie dort oben, sicher auf der Marfée, aufleuchten und wieder zusammensinken sah? Und auf allen Seiten flammten andere empor, bei Pont-Maugis, bei Noyers, bei Frénois, geheimnisvolle Feuer, die wie über einer unzählbaren Menge umhertanzten und aus dem Dunkel aufschossen. Dann bestärkten wieder ungewöhnliche Geräusche sie in ihrer Angst, Tritte wie von einem ganzen dahinmarschierenden Volke, Stöhnen von Tieren, Rasseln von Waffen, eine wahre Völkerwanderung unten in der höllischen Finsternis. Plötzlich ertönte ein Kanonenschuß, ein einziger, bei dem darauffolgenden Schweigen von fürchterlicher, schrecklicher Wirkung. Ihr Blut erstarrte zu Eis. Was hieß das? Sicher ein Zeichen, das das Gelingen einer Bewegung deuten sollte, das ankündigen sollte, sie wären da unten fertig und die Sonne könne nun aufgehen.
Gegen zwei Uhr warf Henriette sich in vollen Kleidern auf ihr Bett und vergaß sogar das Fenster zuzumachen. Müdigkeit und Besorgnis nahmen ihr jede Kraft. Warum zitterte sie wie im Fieber, die sonst doch so ruhig und so leichten Schrittes einherging, daß man ihre Gegenwart gar nicht bemerkte? Von Schläfrigkeit übermannt, verfiel sie in peinvolle Träumereien, in denen sie dauernd das Gefühl eines inder schwarzen Nacht auf sie lauernden drohenden Unglückes hatte. Tief in ihren schweren Träumen fing mit einem Male mit schwerem, weit entferntem Getöse das Geschützfeuer wieder an; und nun kam es gar nicht mehr zum Schweigen, sondern fuhr mit hartnäckiger Regelmäßigkeit fort. Schaudernd setzte sie sich aufrecht. Wo war sie denn? Sie erkannte nichts, sie konnte nicht einmal ihre Kammer sehen, die von dichtem Rauch erfüllt schien. Dann kam es ihr zum Bewußtsein: der vom nahen Flusse aufgestiegene Nebel mußte ins Zimmer gedrungen sein. Draußen verdoppelte der Geschützdonner seine Stärke. Sie sprang aus dem Bett und lief ans Fenster, um zu horchen.
Auf einem der Türme in Sedan schlug es vier. Der junge Tag brach trübe und unklar vor rötlichem Nebel an. Es war unmöglich, irgend etwas zu sehen, und sie erkannte selbst das Schulgebäude auf die paar Meter nicht. Mein Gott, wo konnten diese Schüsse herkommen? Ihr erster Gedanke war an ihren Bruder Maurice, denn die Schüsse tönten so dumpf, daß sie aus dem Norden, von der andern Seite der Stadt zu kommen schienen. Aber dann konnte sie nicht länger zweifeln, die Schüsse fielen dort vor ihr, und nun zitterte sie für ihren Mann. Sicherlich war das in Bazeilles. Ein paar Minuten lang glaubte sie dann sicher zu sein, der Knall käme zeitweilig von rechts. Vielleicht fand das Gefecht bei Donchery statt, wo, wie sie wußte, die Brücke nicht mehr hatte gesprengt werden können. Und dann bemächtigte sich ihrer wieder die grausame Ungewißheit: war es bei Donchery oder bei Bazeilles? Bei dem Brummen, das ihr den Kopf erfüllte, wurde es ihr unmöglich, sich darüber klar zu werden. Ihre Qual wuchs so, daß sie fühlte, sie könne unmöglich länger hier bleiben und warten. Bebend vor Verlangen nachsofortiger Klarheit warf sie ein Tuch um die Schultern und ging fort, um sich Nachricht zu holen.
Unten in der Rue des Voyards schwankte Henriette einen Augenblick, so schwarz kam ihr die Stadt in dem dichten Nebel vor, der sie einhüllte. Das schwache Tageslicht hatte seinen Weg noch nicht bis auf das feuchte Pflaster zwischen den alten verräucherten Hauswänden hinab gefunden. Nur in einer düsteren Kneipe in der Rue au Beurre entdeckte sie im Hintergrunde, wo eine Kerze flackerte, zwei betrunkene Turkos mit einem Mädchen. Sie mußte erst wieder in die Rue Macqua einbiegen, um ein wenig Leben zu finden; Schatten verstohlen entlangschleichender Soldaten glitten auf den Fußsteigen vorbei, vielleicht Feiglinge, die sich ein Versteck suchten; ein langer Kürassier, der auf die Suche nach seinem Rittmeister geschickt war, hatte sich verirrt und klopfte wütend an
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