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Der Zusammenbruch

Der Zusammenbruch

Titel: Der Zusammenbruch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Emile Zola
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auf drei Seiten und dann der Entwässerungskanal, der die beiden hier nahe zusammenkommenden Flußteile an der Grundlinie verband. Hier befand sich der einzige Ausgang, die Brücke, die die beiden Geschütze bestrichen. Es war auch nichts Leichteres, als dies Lager trotz seiner Ausdehnung zu überwachen. Er hatte schon am andern Ufer die deutsche Postenkette bemerkt, alle fünfzig Schritt ein Soldat dicht am Wasser aufgestellt mit dem Befehl, auf jeden zu feuern, derdurch Schwimmen zu entkommen versuchen sollte. Dahinter galoppierten Ulanen herum und verbanden die einzelnen Posten; weiterhin hätte er in der weiten Landschaft verstreut die schwarzen Reihen der preußischen Regimenter zählen können, ein dreifacher, lebender, beweglicher Gürtel, der die gefangene Truppe wie mit einer Mauer umgab.
    Bei seinen vor Schlaflosigkeit weit aufgerissenen Augen sah Maurice jetzt übrigens nichts als die Finsternis, in der die Biwakfeuer aufzuleuchten begannen. Trotzdem unterschied er doch noch jenseits des blassen Bandes der Maas die unbeweglichen Schattenrisse der Schildwachen. Sie standen aufrecht und schwarz im klaren Lichte der Sterne da; in regelmäßigen Abständen tönte ihr aus der Kehle kommender Ruf zu ihm herüber, der Ruf drohender Wachsamkeit, der sich in dem mächtigen Rauschen des Flusses verlor. Der ganze vor zwei Nächten durchlebte Alpdruck stand wieder vor ihm auf, als diese harten, fremdartigen Silben durch die schöne Sternennacht Frankreichs tönten, alles, was er noch vor einer Stunde geträumt hatte, die noch von Toten vollgehäufte Hochebene von Illy, die ganze fluchbeladene Bannmeile von Sedan, in der eine Welt zusammengebrochen war. Wie er so in der Feuchtigkeit dieses Waldrandes den Kopf gegen eine Baumwurzel stützte, verfiel er wieder in dieselbe Hoffnungslosigkeit, die ihn am Tage vorher auf Delaherches Sofa ergriffen hatte; was ihn aber jetzt quälte und seinen Stolz noch mehr leiden ließ, war die Frage nach dem Morgen, die Sucht, einen Maßstab für den Zusammenbruch zu gewinnen, zu wissen, unter welchen Trümmern diese Welt von gestern zusammengestürzt war. Nachdem der Kaiser dem König Wilhelm seinen Degen übergeben hatte, war da dieser abscheuliche Krieg nicht aus? Aber er dachte daran, was ihmzwei bayrische Soldaten geantwortet hatten, die die Gefangenen nach der Halbinsel brachten: »Wir alle in Frankreich, wir alle nach Paris!« In seinem Halbschlafe kam plötzlich eine Erscheinung der augenblicklichen Vorgänge über ihn: das Kaiserreich weggefegt, unter allgemeinen Flüchen fortgeschwemmt, und die Republik unter einem Ausbruch patriotischen Fiebers ausgerufen, wobei die Sage von 92 ihre Schatten an ihm vorüberziehen ließ, die Soldaten der Massenerhebung, die Heere von Freiwilligen, die den vaterländischen Boden von allem Fremden reinigten. All das verwirrte sich in seinem armen, kranken Kopfe, die Forderungen der Sieger, die Bitterkeit des Besiegtseins, der hartnäckige Wunsch der Besiegten, sich bis zum letzten Blutstropfen hinzugeben, die Gefangenschaft für die achtzigtausend Mann, die hier lagen, zuerst auf dieser Halbinsel, dann in den deutschen Festungen, Wochen, Monate, vielleicht Jahre lang. Alles krachte und stürzte für ewig in den Abgrund dieses schrankenlosen Unglücks hinab.
    Der Ruf der Schildwachen kam allmählich auf ihn zu, brach dann vor ihm aus, um in der Ferne zu verhallen. Er war wieder aufgewacht und drehte sich auf der harten Erde um, als ein Schuß die große Stille zerriß. Sofort klang ein Todesröcheln durch die Nacht; das Wasser spritzte auf in dem kurzen Kampf eines senkrecht untersinkenden Körpers. Zweifellos ein Unglücklicher, der eine Kugel gerade mitten in die Brust gekriegt hatte, als er über die Maas zu schwimmen versuchte, um zu fliehen.
    Am folgenden Morgen war Maurice bei Sonnenaufgang schon auf den Beinen. Der Himmel war klar geblieben, und er wollte nun schleunigst Jean und die Kameraden von seiner Kompanie wiederfinden. Einen Augenblick dachte er daran,abermals das Innere der Halbinsel zu durchstöbern; dann aber entschloß er sich, seinen Rundmarsch zu vollenden. Und als er sich wieder am Kanalufer einfand, sah er die Überreste der 106er, so etwa tausend Mann, an der Böschung gelagert, wo sie nur die dürftige Pappelreihe schützte. Hätte er sich gestern links gewendet, anstatt geradeaus zu gehen, so würde er sein Regiment sofort getroffen haben. Fast alle Linienregimenter lagen hier auf einem Haufen an der sich vom Glaireturm

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