Der Zusammenbruch
erwürgt! Gerade dieser Brief, den ich gekriegt habe, hat mich so wütend auf ihn gemacht!«
Und nachdem sich beide ein paar Schritte vom Hof entfernt in einen Strohhaufen gesetzt hatten, gab er seinem Vetter den Brief.
Die alte Geschichte, diese unglückliche Liebe zwischen Honoré Fouchard und Silvine Morange. Ein braunes Mädchen mit schönen, hingebenden Augen, hatte sie ihre Mutter, eine verführte Arbeiterin, die in einer Fabrik in Naucourt arbeitete, sehr jung verloren, und Doktor Dalichamp, ihr Pate, ein braver Mann, der stets bereit war, die Kinder der Armen, die er entband, als eigene anzunehmen, war auf den Gedanken gekommen, sie als Kleinmagd beim Ohm Fouchard unterzubringen. Gewiß war der alte Bauer, der aus Gewinnsucht Schlachter geworden war und sein Fleisch bei zwanzig Gemeinden in der Runde absetzte, von schwarzem Geiz und erbarmungsloser Härte; aber er würde wenigstens auf die Kleine achten, und sie würde ihr Auskommen haben, wenn sie arbeitete. Jedenfalls würde sie vor dem Lasterleben in der Fabrik bewahrt bleiben. Und es ergab sich ganz natürlich, daß sich bei Vater Fouchard der Sohn des Hauses und die kleine Magd ineinander verliebten; Honoré war sechzehn, als Silvine zwölf war, und als sie sechzehn war, war er zwanzig; er wurde ausgelost und war begeistert über seine gute Nummer, da er entschlossen war, sie zu heiraten. Infolge der seltenen Ehrenhaftigkeit des jungen Mannes, die eine überlegende und ruhige Sinnesanlage erkennen ließ, war es zwischen ihnen zu nichts weiter als mächtigen Küssereienauf dem Heuboden gekommen. Als er aber zu seinem Vater von Heiraten sprach, erklärte dieser wütend und starrköpfig, erst müsse er ihn totschlagen; und er behielt das Mädchen ruhig da in der Hoffnung, die beiden würden sich zufriedengeben und die Geschichte so vorübergehen. Fast achtzehn Monate lang beteten sich die jungen Leute noch an und verlangten einander, ohne sich zu berühren. Infolge eines scheußlichen Vorgangs zwischen den beiden Männern stellte sich der Sohn dann, da er übrigens auch nicht länger bleiben konnte, und wurde nach Afrika geschickt, während der Alte darauf bestand, das Mädchen, mit dem er zufrieden war, zu behalten. Dann kam das Scheußliche: Silvine, die geschworen hatte zu warten, fand sich vierzehn Tage später eines Abends in den Armen eines Knechtes wieder, der seit etwa einem Monat angestellt war, eben dieses Goliath Steinberg, des Preußen, wie man ihn nannte, eines großen, netten Bengels mit kurzen blonden Haaren und einem rosigen, ewig lächelnden Gesicht, der Honorés Gefährte und Vertrauter geworden war. Hatte Vater Fouchard dieses Abenteuer heimlich gefördert? Hatte Silvine sich in einer Minute der Bewußtlosigkeit hingegeben oder war sie, krank vor Kummer, noch schwach von den Tränen der Trennung, halb vergewaltigt? Sie wußte es selbst nicht mehr, wie vom Donner betäubt; sie war schwanger geworden und ergab sich nun in die Notwendigkeit, Goliath zu heiraten. Immer lächelnd, weigerte der sich übrigens gar nicht und schob die Förmlichkeiten nur bis zur Geburt des Kleinen auf. Am Abend vor der Niederkunft verschwand er dann plötzlich. Später hieß es, er sei auf einen andern Hof in Dienst gegangen, nach Beaumont hinüber. Das war vor drei Jahren gewesen, und kein Mensch zweifelte jetzt noch daran, daß dieser nette Goliath, der denMädchen so leicht Kinder machte, einer der Spione sei, mit denen Deutschland unsere Ostprovinzen bevölkerte. Als Honoré diese Geschichte in Afrika erfuhr, hatte er drei Monate im Lazarett bleiben müssen, als ob ihn der Feuerbrand der mächtigen Sonne da unten in den Nacken getroffen und zu Boden gestreckt hätte; und nie hatte er sich einen Urlaub zunutze gemacht und die Heimat besuchen wollen, aus Furcht, Silvine und das Kind wiederzusehen.
Die Hände zitterten dem Artilleristen, während Maurice den Brief las. Es war ein Brief von Silvine, der erste und einzige, den sie ihm je geschrieben hatte. Welchem Gefühl gehorchte sie, die unterwürfige, schweigsame, deren schöne schwarze Augen manchmal trotz ihrer fortdauernden Knechtschaft eine so außergewöhnliche Willensfestigkeit verrieten? Sie sagte nur, sie wüßte, er sei im Kriege, und daß, wenn sie ihn nie wiedersehen sollte, ihr der Gedanke zu schmerzhaft sei, er könne sterben in dem Glauben, sie liebe ihn nicht mehr. Sie liebte ihn immer noch, hätte nie einen andern geliebt; und das wiederholte sie vier Seiten lang in Ausdrücken, die stets
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