Der zweite Gral
letzten Fehlschlag verändert hat, möchte ich Ihnen schon einmal einen Vorgeschmack auf die Zukunft unseres Projekts geben«, sagte Goldmann auf dem Weg zum Treppenhaus. »Forschungen, bei denen wir derzeit noch in den Kinderschuhen stecken, die uns aber irgendwann befähigen könnten, ein Alter von weit mehr als 800 Jahren zu erreichen. Vielleicht ermöglichen diese Forschungen uns eines Tages sogar das ewige Leben.«
Die erste Station war ein großer, in bläuliches Licht getauchter Raum, der sich im Nordflügel des Palasts befand, rund drei Meter unterhalb der Erde. An den Seitenwänden reihten sich dutzende von unterschiedlich großen Aquarien. In den meisten erblickte Donna farbenprächtige Korallenstöcke und eine Vielzahl bunter Fische – allesamt Bewohner des Roten Meeres. Doch sie wusste, dass Korallen und Fische nur dazu dienten, einen möglichst natürlichen Lebensraum für die eigentlichen Hauptdarsteller dieses Laborbereichs zu simulieren: Kraken.
Donna betrachtete das mannshohe Aquarium zu ihrer Linken genauer. Tatsächlich entdeckte sie inmitten eines bizarr angelegten Riffs mehrere höhlenartige Nischen, in die sich dieTiere zurückgezogen hatten. Aus einem senkrecht verlaufenden Spalt lugten seitlich Fangarme hervor wie Finger, die eine Schiebetür auseinander drücken wollten. Und im Schatten eines Felsüberhangs waren mehrere rötliche Leiber ineinander verschlungen.
Beinahe ehrfürchtig folgte Donna Greenwood den anderen über den von schimmernden Lichtspielen bedeckten Gang. Niemand sprach ein Wort. Umso lauter wirkten die Schritte, die von den Glaswänden widerhallten.
Sie erreichten eine Arbeitsinsel, bestehend aus mehreren ringförmig angeordneten Computerblöcken, die ein dumpfes Summen von sich gaben. Im Zentrum des Computerrings befanden sich mehrere Arbeitsflächen. Auf einer davon war eine komplette Garnitur OP-Besteck aufgereiht – Skalpelle, Tupfer, Spreizklammern und so weiter. Daneben lag auf einem separaten Chromtisch ein etwa anderthalb Meter langer Krake flach ausgestreckt in einem nur zwanzig Zentimeter hohen Wasserbett.
»Das Tier steht noch unter Narkose«, sagte Doktor Goldmann. »Es wurde erst vor einer Stunde operiert. Hier sehen Sie die noch frische Naht.« Er deutete auf den sackartigen Leib des Kraken. Knapp oberhalb der Augen erkannte Donna eine kleine, kerzengerade verlaufende Wunde, die sauber vernäht worden war.
»Unsere Krakenversuche sind bahnbrechend«, sagte Doktor Goldmann. »Dieses Weibchen hat vorgestern gelaicht. Es legte rund 150.000 Eier ab und übernahm daraufhin die Brutpflege. Hätten wir der Natur ihren Lauf gelassen, hätte dieses Krakenweibchen nichts mehr gefressen. Es wäre in den nächsten Wochen rapide gealtert und wenige Tage nach dem Schlüpfen des Nachwuchses gestorben. Das ist bei allen Krakenweibchen so – ein gleichsam vorprogrammierter Tod, der eintritt, sobald das neue Leben geboren ist.« Er ließ diese Worte einen Moment lang einwirken, ehe er weitersprach. »In unseren Experimenten haben wir die Ursache dafür entdeckt: zwei Hormondrüsen, die hinter den Augenhöhlen liegen. Todesdrüsen. Durch simples Entfernen dieser Drüsen wird verhindert, dass die Tiere nach dem Laichen sterben, weil der körpereigene Suizidmechanismus ausbleibt. Die von uns operierten Krakenweibchen fressen wieder und leben im Schnitt sieben Mal so lang wie ihre Artgenossinnen in freier Natur. Mittlerweile haben wir auch bei Krakenmännchen solche Sterbedrüsen entdeckt. Andere Organismen verfügen über ähnliche Selbstzerstörungsmechanismen. Bei Fadenwürmern und Taufliegen aktivieren sich von einem bestimmten Zeitpunkt an Todesgene in der DNS. Es ist schon gelungen, die für den plötzlichen Zelltod verantwortlichen Gene künstlich auszuschalten. Das Ergebnis war eine deutliche Verlängerung des Lebens. Ob der Mensch ebenfalls über selbstzerstörerische Gen-Abschnitte verfügt, werden wir noch herausfinden müssen. Jedenfalls spricht einiges dafür. Schon heute ist hinlänglich bekannt, dass Menschen, denen der Gen-Abschnitt apo E4 fehlt, im Alter besonders gesund und lebensfroh sind. Meine Untersuchungen an den Greisen aus Wad Hashabi haben das bestätigt. Keiner dieser Alten besaß dieses Gen, und dies ist einer der Gründe für die Langlebigkeit in diesem Dorf, da bin ich sicher. Diese Veranlagung wird von einer Generation auf die nächste vererbt. Ich kann mir vorstellen, dass noch weitere Todesgene in der menschlichen DNS stecken. Aber bis diese
Weitere Kostenlose Bücher