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Der Zwerg reinigt den Kittel

Der Zwerg reinigt den Kittel

Titel: Der Zwerg reinigt den Kittel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anita Augustin
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Ministerin sagt: »Wir müssen uns im Sinne der Wohlstandserhaltung um eine nachhaltige Ressourcenaktivierung bemühen, die auch auf das Potential jener Menschen zugreift, die pflegebedürftig sind und in Heimen leben. Auch diese Menschen können und wollen ihren Beitrag leisten!«
    Ich überfliege »größtmögliche Leistungsfähigkeit«, »kein Platz für Schwächlinge«, »minderwertige Elemente«, »Defektmenschen«, die Ministerin sagt: »Wir werden in enger Kooperation mit Vertretern aus Wirtschaft und Forschung ein Leuchtturmprojekt starten, das auch diesen Menschen die Chance gibt, ihren Beitrag zu leisten. Für dieses zukunftsweisende Projekt haben wir als zentralen Kooperationspartner den geschäftsführenden Leiter einer renommierten Seniorenresidenz gewonnen.«
    Ich schließe das Buch und gähne. Wirklich nicht besonders spannend, viel zu theoretisch. Ich lege das Buch auf den Stapel zurück und nehme ein leeres Kärtchen aus dem Karteikasten. Die Ministerin sagt lächelnd: »Die Details erfahren Sie morgen bei einer Pressekonferenz.« Ich nehme den Bleistift und schreiben oben auf das Kärtchen: Unergiebig. Darunter schreibe ich in meiner schönsten Schönschrift:
    Karl Binding: Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens, 1922 .

13
    Knack. 12 : 15 .
    Vivaldi, Die Vier Jahreszeiten, Der Winter.
    Außentemperatur: geschätzte dreißig Grad, Innentemperatur: keine Ahnung, die Heizung im Speisesaal ist auf Maximum gedreht, die Fenster sind geschlossen.
    Zu Mittag gibt es in der R ESIDENZ immer Huhn und Vivaldi. Das Huhn ist geschnetzelt, der Vivaldi auch, es gibt da diese Version von diesem berühmten venezianischen Orchester, Sie wissen schon, das mit den elektronisch verstärkten Streichinstrumenten und dem Synthesizer.
    Schwester Cornelia wischt sich mit dem Handrücken über die Stirn, sie hat gerade die Plastikblumen auf Tisch Nummer zwei ein Stück nach links geschoben, dann wieder ein Stück nach rechts, jetzt stehen sie genau in der Mitte, Schwester Cornelia geht zur Tür. Doppelrudi und die Küchenhilfe sind schon auf Position, sie stehen neben der Tür, die Rücken durchgestreckt, zwei Zinnsoldaten. Nummer 11 : schon auf Position. Er hält das Tablett mit den Schälchen in beiden Händen und sieht noch schrecklicher aus als beim Frühstück, weil irgendjemand kleine Mickymäuse über die Wunden in seinem Gesicht geklebt hat. Irgendeine gute Seele, wahrscheinlich Schwester Terese.
    Ich starre auf mein Mittagessen und denke konzentriert an das, was mein Mittagessen sein wird, wenn wir endlich anfangen dürfen: kalt.
    Ein Plastikbehälter mit drei Vertiefungen, links die Suppe, in der Mitte das Hauptgericht, rechts die Nachspeise.
    Die Haferschleimsuppe, denke ich, und starre auf den schmutzigweißen Brei, sie wird kalt sein, wenn wir endlich anfangen dürfen. Das Hühnergeschnetzelte und der gedünstete Broccoli, denke ich: kalt. Mein Blick wandert über die blassgelben Klümpchen, die früher einmal gegackert haben, irgendwann, vor sehr langer Zeit, dann weiter über den blassgrünen Matsch, ich denke konzentriert an das, was er früher einmal war.
    Broccoli, tiefgefroren.
    Broccoli, schockgefrostet.
    Funktioniert ganz gut, mir ist nicht mehr ganz so heiß, jetzt nur nicht weiterdenken, denke ich, immer schön dranbleiben an dem tiefgekühlten Broccoli und nicht weiterdenken von wegen Mikrowelle und Auftauen und so, da fällt mein Blick auf die Nachspeise.
    Beim Anblick der gelben Soße, die vor ein paar Minuten noch Vanilleeis für Diabetiker war, bricht mir der Schweiß aus allen Poren.
    Aus allen.
    Ich gebe auf.
    Â»Höhö«, sagt Schwochow, »ganz schön heiß heute herrlicher Tag einfach herrlich dreißig Runden gejoggt dreißig Runden und das bei der Hitze das soll mir mal einer nachmachen von den alten Heimschwuchteln hier höhö und da fällt mir ein Witz ein und der geht so: Kommt ein Jude ins Krematorium und sagt zum …«
    Während Schwochow zu den Klängen von Vivaldis Winter den Witz vom Juden im Krematorium erzählt, füttert Frau Schnalke Attila mit kleinen Fleischstücken, die anderen machen das Übliche.
    Karlotta: starrt vor sich hin, Schweißtropfen auf ihrer Stirn.
    Suzanna: starrt auf die Fleischstücke, Schweißflecken unter ihren Achseln.
    Marlen starrt auf Attila, Frau Sonne

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