Des Teufels Kardinal
Anpassungsschwierig-keiten unter.
Obwohl Harry tapfer versuchte, sich nichts anmerken zu lassen, hing er völlig in der Luft. Als ältester Sohn und älterer Bruder hätte er der Haushaltsvorstand sein sollen. Aber welchen Haushalts, wenn es in seiner neuen Familie schon zwei ältere Söhne gab, die das Heft fest in der Hand hielten?
Das alles ließ ihn zaudern, weil er aus Angst, die Verhältnisse könnten sich noch mehr verschlimmern, keine Bewegung mehr wag-282
te. So zog er sich stillschweigend zurück. Da er in seiner neuen Schule nur wenige Freunde hatte, blieb er am liebsten allein, las viel, sah fern, wenn sonst niemand vor dem Fernseher saß, oder streifte wie heute durch den Wald. Dieser Tag war besonders schwierig: sein dreizehnter Geburtstag, an dem er nicht länger ein Kind, sondern ein Teenager war. Er wußte, daß es zu Hause keine Geburtstagsfeier geben würde; bestenfalls konnte er mit einem Geschenk rechnen, das seine Mutter ihm kurz vor dem Schlafengehen heimlich in ihrem Zimmer zusteckte. Es lag daran, daß sie selbst unsicher war und ihre eigenen Söhne in diesem viel größeren Haushalt und vor einem Ehemann, dem sie sich verpflichtet fühlte, nicht sichtbar bevorzugen wollte. Trotzdem machte das die Feier seiner Geburt zu einer verbo-tenen Heimlichkeit, als sei er das nicht wert, oder, noch schlimmer, als existiere er nur dem Namen nach. Deshalb war es besser, nachmittags allein durch den Wald zu streifen und zu versuchen, nicht daran zu denken.
Bis er den Felsen sah.
Der etwas abseits des Weges und halb im Unterholz verborgene Felsen erregte seine Aufmerksamkeit, weil auf ihm etwas geschrieben stand. Harry kletterte neugierig über einen umgestürzten Baum-stamm, drückte das Buschwerk beiseite und arbeitete sich zu ihm vor. Als er vor dem Felsen stand, konnte er die fünf Wörter lesen, in großen, deutlichen, frisch mit Kreide geschriebenen Buchstaben: WER ICH BIN IST ICH.
Er sah sich instinktiv um, ob der Schreiber in der Nähe war und ihn beobachtete. Als er niemanden sah, drehte er sich wieder um und studierte die Wörter nochmals. Und je länger er sie betrachtete, desto mehr festigte sich seine Überzeugung, sie seien allein für ihn dort hingeschrieben worden. Für den Rest des Tages und bis in die Nacht hinein dachte er über sie nach. Kurz vor dem Zubettgehen schrieb er sie in ein Notizheft, das er in der Schule benutzte. Und während er das tat, wurden sie sein Eigentum, seine Unabhängigkeitserklärung.
In diesem bedeutsamen Augenblick erkannte er, daß er frei war.
WER ICH BIN IST ICH. Wer er war und was er wurde, lag allein in seiner Hand, nicht in der anderer. Und er war entschlossen, diesen 283
Zustand beizubehalten, um niemals mehr von anderen abhängig zu sein. Meistens hatte das auch geklappt.
Plötzlich fiel helles Neonlicht auf Harrys Gesicht und riß ihn aus seinen Erinnerungen. Im nächsten Augenblick setzte der Aufzug nachdrücklich auf dem Boden des Schachts auf.
Als er den Kopf hob, sah er, daß Elena ihn mit sorgenvollem Blick betrachtete.
»Was gibt es?«
»Sie sollten wissen, daß Ihr Bruder schrecklich abgemagert ist. Erschrecken Sie nicht, wenn Sie ihn sehen.«
»Danke für die Warnung.« Harry nickte ihr zu, streckte eine Hand aus und öffnete die Aufzugtür.
Er folgte Elena rasch durch ein Labyrinth aus schmalen Gängen, an deren Wänden reichverzierte Bronzeleuchter brannten und in deren Boden eine Führungslinie aus grünem athenischen Marmor eingelegt war. Über ihnen veränderten sich die Deckenhöhen ohne Vorwarnung, und an einigen Stellen mußte Harry den Kopf einziehen, um überhaupt durchzukommen.
Schließlich gelangten sie nach mehreren scharfen Biegungen in ei-ne Art langen, breiten Zentralkorridor, in dessen Seitenwände uralte Bänke eingehauen waren. Dort bog Elena links ab, ging noch etwa zehn Meter weiter und blieb vor einer Tür stehen. Sie klopfte leicht an, sagte etwas auf italienisch und öffnete die Tür.
Salvatore und Marta standen sofort auf, als die beiden hereinkamen. Und dann sah Harry ihn auf der anderen Seite dieses unterirdischen Raums. Er schlief ihm zugekehrt in seinem Bett. Ein Tropf hing an dem Gestell über ihm, Kopf und Oberkörper waren teilweise mit Mullverbänden bedeckt. Er war noch bärtiger als Harry. Und schrecklich abgemagert, wie Elena es gesagt hatte.
Danny.
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Harry trat langsam an das Bett und blickte auf seinen Bruder herab.
Er hatte nicht den geringsten Zweifel daran, wer dort lag, denn
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