Des Teufels Kardinal
feuchten Lappen wieder, um sein Gesicht abzuwischen und die Umgebung der Wunde auf seiner Stirn zu säubern.
Dann bewegte sie sich etwas zur Seite, um vorsichtig das in seinem Haar getrocknete Blut wegzutupfen.
Irgendwo in der Ferne war ein unbestimmbares Rumpeln zu hören, und der Boden erzitterte. Dann hörten das Geräusch und die Bewegung plötzlich auf. Harry spürte eine Hand auf seiner Schulter und öffnete die Augen oder vielmehr sein rechtes Auge, mit dem er sehen konnte. Ein übergroßer Kopf mit im trüben Licht glitzernden Augen starrte auf ihn herab.
»Parla italiano?« Der neben Harry auf dem Boden sitzende Mann sprach mit quäkend hoher Stimme in seltsam akzentuiertem Sing-sang.
Harry drehte langsam den Kopf zur Seite, um ihn besser sehen zu können.
»Inglese?«
»Ja«, flüsterte Harry.
»Amerikaner?«
»Ja«, flüsterte Harry wieder.
»Ich auch, früher mal. Pittsburgh. Ich bin nach Rom gekommen, um in einem Fellini-Film mitzuspielen. Das hat nie geklappt. Aber ich bin hier hängengeblieben.«
Harry konnte das Geräusch seiner eigenen Atemzüge hören. »Wo bin ich?«
Der Mann lächelte. »Bei Herkules.«
Plötzlich erschien ein weiteres Gesicht, das ebenfalls auf ihn herabblickte. Es gehörte einer Frau. Dunkelhäutig, ungefähr vierzig, das schwarze Haar von einem grellbunten Schal zusammengehalten. Sie kniete nieder, betastete seinen Kopf, griff dann über Harry hinweg 127
und hob seine dick verbundene linke Hand hoch. Sie sah zu dem Mann mit dem übergroßen Schädel hinüber und sagte etwas in einer Sprache, die Harry noch nie gehört hatte. Der Mann nickte. Die Frau musterte Harry erneut, stand plötzlich auf und verschwand. Wenig später war ein Geräusch zu hören, als werde eine schwere Tür geöffnet und wieder geschlossen.
»Sie können nur mit einem Auge sehen. Aber das andere funktioniert auch bald wieder. Sie hat’s gesagt.« Herkules lächelte erneut.
»Ich soll Ihre Wunden zweimal täglich auswaschen und morgen Ihren Handverband wechseln. Der Kopfverband kann eine Zeitlang dranbleiben. Das hat sie mir alles gesagt.«
Wieder das Rumpeln, das den Boden erzittern ließ.
»Ich lebe hier«, erklärte Herkules ihm. »In einem abgetrennten Teil der U-Bahn, einem alten Arbeitstunnel. Ich hause seit fünf Jahren hier, und keiner weiß davon, außer ein paar Leuten wie ihr. Nicht schlecht, was?« Er lachte, dann streckte er einen Arm aus und zog sich mit Hilfe einer Aluminiumkrücke hoch. »Meine Beine sind verkümmert, aber meine Schultern sind mächtig, und ich bin stark.«
Herkules war ein Zwerg, ein Meter zehn, höchstens einen Meter zwanzig groß. Sein Schädel war groß, fast eiförmig. Und seine Schultern waren ebenso mächtig entwickelt wie seine Arme. Aber sein restlicher Körper war verkümmert. Er hatte eine winzige Taille, und die spindeldürren Beine bestanden nur aus Haut und Knochen.
Herkules hinkte zu der dunklen Wand hinter ihm und nahm etwas herunter. Als er sich umdrehte, hatte er eine zweite Krücke in der Hand.
»Sie sind angeschossen worden.«
Harry starrte ihn verständnislos an. Er konnte sich an nichts erinnern.
»Sie haben verdammt Glück gehabt. Es war eine kleinkalibrige Waffe. Die Kugel hat Ihre Hand durchschlagen und ist von Ihrer Stirn abgeprallt. Sie haben im Abwasserkanal gelegen. Ich habe Sie rausgefischt.«
Harry starrte Herkules mit seinem rechten Auge an und begriff noch immer nichts, während sein Verstand sich anstrengte, die Wirklichkeit zu erfassen. Aus irgendeinem Grund mußte er an Madeline 128
denken. Er sah sie mit verdrehten Armen und Beinen und aufgelö-
stem Haar im schwarzen Wasser unter dem Eis treiben und fragte sich, ob es für sie auch so ähnlich gewesen war, der Übergang von einer erschreckenden Realität in einen traumähnlichen Zustand mit ständigem Wechsel zwischen diesen beiden Stadien, bis sie endlich in ihren letzten tiefen Schlaf gesunken war.
»Sie haben keine Schmerzen?«
»Nein.«
Herkules grinste. »Das kommt von ihrer Medizin. Sie ist eine Zigeunerin, die sich aufs Heilen versteht. Ich bin kein Zigeuner, aber ich komme ganz gut mit ihnen aus. Sie geben mir Sachen, ich gebe ihnen Sachen. Wir erweisen uns Gefälligkeiten. So respektieren wir einander und bestehlen uns nicht.« Ein Kichern brach aus ihm heraus, und er ließ ihm freie Bahn, bevor er wieder ernst wurde. »Und ich Sie auch nicht, Pater.«
»Pater?« Harry starrte ihn verständnislos an. »Ihre Papiere haben in Ihrer Jacke gesteckt,
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