Des Teufels Kardinal
und setzte sich direkt vor Marsciano. »Lebt der Priester noch?«
Seit dem Augenblick, in dem Harry Addison behauptet hatte, dies seien nicht die sterblichen Überreste seines Bruders, hatte Marsciano gewußt, daß es nur eine Frage der Zeit war, bis Palestrina ihn ins Gebet nahm. Er war überrascht, daß das so lange gedauert hatte.
Aber inzwischen hatte er sich so gut wie möglich vorbereiten können.
»Nein«, sagte er sofort.
»Die Polizei glaubt, daß er noch lebt.«
»Dann irrt sie sich.«
»Sein Bruder ist anderer Meinung gewesen«, stellte Farel fest.
»Er hat nur gesagt, das sei nicht die Leiche seines Bruders. Aber er hat sich getäuscht.« Marsciano bemühte sich, leidenschaftslos nüchtern zu wirken.
»Die Gruppo Cardinale hat einen Videofilm, in dem Harry Addison seinen Bruder auffordert, sich zu stellen. Klingt das nach jemandem, der sich getäuscht hat?«
Marsciano schwieg einen Augenblick. Als er weitersprach, wandte er sich im selben Tonfall wie zuvor an Palestrina. »Jakow ist mit mir 119
im Leichenhaus gewesen, als das Beweismaterial vorgelegt und die Identifizierung vorgenommen worden ist.« Er sah zu Farel hinüber.
»Stimmt das nicht, Jakow?«
Farel äußerte sich nicht dazu.
Palestrina betrachtete Marsciano forschend. Dann stand er auf und trat ans Fenster, wo sein riesiger Körper das Sonnenlicht verdunkel-te. Als er sich umdrehte, waren nur noch seine massigen Umrisse zu erkennen.
»Der Deckel einer Schachtel wird abgenommen. Eine Motte fliegt heraus und flattert in der Brise davon. Wie hat sie dort drinnen überlebt? Wohin ist sie verschwunden, als sie weggeflogen ist?« Palestrina kam wieder vom Fenster zurück.
»Ich bin als scugnizzo , als gewöhnlicher neapolitanischer Straßenjunge aufgewachsen. Mein einziger Lehrer ist das Leben gewesen.
Wenn man mit einer blutenden Kopfwunde im Rinnstein sitzt, weil man belogen worden ist, aber eine Lüge für die Wahrheit gehalten hat… Daraus hat man gelernt. Und man hat darauf geachtet, daß einem das nicht noch mal passiert.« Palestrina blieb neben Marsciano stehen und sah auf ihn herab.
»Ich wiederhole meine Frage, Nicola: Lebt der Priester noch?«
»Nein, Euer Eminenz. Er ist tot.«
»Dann sind wir hier fertig.« Palestrina sah zu Farel hinüber, dann verließ er wortlos den Raum.
Marsciano, der wie erstarrt dasaß, blickte ihm nach. Da er wußte, daß Palestrina seinen Polizeibeamten später ausfragen würde, wie Marsciano sich nach seinem Fortgang benommen habe, gab er sich einen Ruck und sah zu Farel hinüber. »Er ist tot, Jakow«, sagte er.
»Tot.«
Einer von Farels Männern in Zivil hielt am Fuß der Treppe Wache, als Marsciano herunterkam. Der Kardinal ging an ihm vorbei, ohne ihn eines Blickes zu würdigen.
Marsciano hatte sein gesamtes bisheriges Leben Gott und der Kirche gewidmet. Er war einfach und stark wie das toskanische Bauern-geschlecht, aus dem er stammte. Männer wie Farel und Palestrina lebten in einer Welt außerhalb seines Vorstellungsvermögens.
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»Zum Besten der Kirche«, hatte Palestrina gesagt, weil er wußte, daß die Kirche und ihr Wohlergehen Marscianos Schwäche waren.
Daß er sie fast ebenso verehrte, wie er Gott verehrte, weil sie in seinen Augen identisch waren. Liefern Sie mir Pater Daniel aus, bedeutete Palestrina ihm, dann bleiben der Kirche das Schauspiel eines Gerichtsverfahrens und der Skandal erspart, der unvermeidlich ist, wenn er tatsächlich noch lebt und von der Polizei gefaßt wird. Und das stimmte. Denn Pater Daniel, der ohnehin bereits als tot galt, wür-de einfach verschwinden. Dafür würden Farel oder Thomas Kind sorgen. Der Tote würde innerhalb der Kirche als schuldig gelten, und der Fall Parma konnte endlich zu den Akten gelegt werden.
Aber Marsciano war nicht bereit, Pater Daniel auszuliefern, nur um ihn ermorden zu lassen. Vor der Nase Palestrinas, Farels, Capizzis und Matadis hatte er seine gesamten Möglichkeiten ausgeschöpft, um zu versuchen, das Unmögliche zu schaffen und Pater Daniel für tot erklären zu lassen, obwohl er wußte, daß das nicht stimmte. Und wäre Pater Daniels Bruder nicht gewesen, wäre er damit vielleicht sogar durchgekommen. Aber es hatte nicht geklappt. So blieb ihm nichts anderes übrig, als in der Hoffnung auf Zeitgewinn weiter den Ahnungslosen zu spielen. Aber er hatte nicht sehr glaubhaft gewirkt, das stand außer Zweifel.
Sein Versuch, Farel nach Palestrinas Verschwinden davon zu überzeugen, er habe die Wahrheit gesagt, war
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