Des Teufels Maskerade
versucht, mich daran zu erinnern, wie der Unfall in Dieppe wirklich zustande kam. War es mein eigenes Verschulden? Wollte ich einem anderen Wagen ausweichen? War es technisches Versagen gewesen? Man hätte schon Augur sein müssen, um aus den Trümmern meines damaligen Benz einen Tathergang herauszulesen wie aus den Eingeweiden des geopferten Rinds.
Diesmal sah ich genau, wie es geschah. Und nicht nur ich – selbst über den Lärm der Motoren hinweg hörte ich Zuschauer schreien, als sich, einer Kanonenkugel gleich, ein kleines, dunkles Tier vom Himmel stürzte – direkt auf mich.
Reflexartig verriss ich das Steuer, schlingerte; die Strecke war breit, aber nicht breit genug. Die Bäume kamen näher, der Benz schlitterte neben der Piste, dann der Zaun, ein Aufprall. Ein unendlich langer Moment, in dem eine Krähe heftig flatternd und krächzend wieder gen Himmel stieg – ein Moment, in dem mir Zeit blieb für einen letzten Gedanken: »Verdammt!«
Ich schwamm in einem See aus Dunkelheit. Das war gut so, denn dunkel bedeutete die Abwesenheit von Feuer. Damals, in Frankreich, hatte es gebrannt.
Und heute? Durch die Federdecke nachtschwarzer Betäubung drangen Stimmen zu mir. Etliche aufgeregt, einige sehr ruhig.
Ich hörte »Vorsicht« und »Kopfverletzungen« und »ruhig halten«, zuletzt »O mein Gott, das ist Blut«. Ich fühlte Hände um meinen Brustkorb und spürte, wie ich halb aus dem Wagen gehoben, halb gezerrt wurde. Jemand sagte: »Lassen Sie mich doch durch, ich bin Arzt« – eine junge ungeduldige Stimme.
Unter großen Anstrengungen öffnete ich die Augen einen Spalt. Ein fremdes Gesicht schwebte über mir, jemand fühlte meinen Puls.
»Die Krähe?«, murmelte ich; man blieb mir eine Antwort schuldig. Stattdessen wurde ich ein paar Schritte getragen und niedergelegt. Gras kitzelte in meinem Nacken; ungeachtet der Hitze breitete einer der Helfer eine Decke über mich. Jemand rief nach einer Bahre.
Ich schloss die Augen und wartete auf den Schmerz – diesen großen, übermächtigen Bastard von Schmerz, der eine klare Sprache spricht: »Du hast verloren.«
Zeit verging. Ich fühlte, wie ich ruhiger wurde, wie Panik und
Erregung einer tiefen Müdigkeit wichen … Dann kam der Schmerz, der Kopf tat mir weh und schon wieder der linke Arm! Jeder Atemzug stach in meiner Brust, aber im Vergleich zu dem, was ich erwartet hatte, waren dies nicht mehr als kleine Unpässlichkeiten.
Mühsam hob ich den Kopf, kämpfte gegen Schwindelgefühl und Übelkeit, rappelte mich in eine sitzende Position auf. Sogleich stützten mich helfende Hände, eine sonderbar körperlose Stimme riet mir, mich wieder hinzulegen.
»Es geht mir gut«, sagte ich zitternd.
»Das wage ich zu bezweifeln«, stellte der junge Mann, der sich Minuten früher als Arzt zu erkennen gegeben hatte, sardonisch fest.
Vorsichtig bewegte ich Arme und Beine, die sich als weitgehend unverletzt herausstellten.
»Helfen Sie mir auf«, wandte ich mich an den Arzt, der mir mit skeptischer Miene die Hand reichte.
Schwankend kam ich auf die Beine; ein paar tiefe Atemzüge, dann registrierte ich die Menge der Helfer und Schaulustigen, die sich um mich gebildet hatte – und um das Wrack meines Benz. Wenigstens war er noch einwandfrei als Automobil zu erkennen, auch wenn seine eingedrückte Schnauze und die gebrochenen Radachsen einen traurigen Anblick boten.
»Mutter Gottes! Sie hatten wirklich Glück, dass Sie die Bäume verfehlt haben, Baron!«, verkündete eine Gestalt zu meiner Linken, die mein träge arbeitendes Hirn erst auf den zweiten Blick als Marchese identifizierte.
»Ja, Glück.« Eine überwältigende Müdigkeit hatte mich plötzlich erfasst. Wohin war die verdammte Krähe verschwunden?
In einem Taumel vollkommener Erschöpfungen stolperte ich durch die nächste Stunde: Wundversorgung (es war nur eine Beule an der Stirn, eine geprellte Schulter und eine Rippe angebrochen, dazu oberflächliche Schnittwunden am linken Arm) und dann waren Lili und Lysander bei mir. Nein, es war nicht notwendig, mich in ein Krankenhaus zu bringen; ja, es ging mir gut, nur etwas benommen. Nein, ich wollte nur noch zurück in mein Hotelzimmer und mich zu Bett begeben. Ja, der Marchese würde sich um den Wagen kümmern. Nein …
TELEGRAMME, WIEN, 28. JUNI 1909
Telegramm erhalten. Jesus-Maria-Mutter-Gottes Herr im Himmel! Glück im Unglück zum Teufel! Das hast Du wieder von der Rennfahrerei. Esther
Gut gemacht, Dejan. Gut gemacht.
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