Des Teufels Sanduhr: Roman (German Edition)
auf dem Wagen halten konnte, dass dieser nicht umkippte und dass auch das Pferd schließlich im tiefen Schnee einer Wegbiegung zum Stehen kam. Beiden war nichts geschehen, Anna jedoch verspürte einen stechenden Schmerz in ihrer Schulter. Nachdem Balthasar sie aus dem Zügelwirrwarr befreit hatte und sie sich von dem ersten Schrecken erholt hatten, stellten sie fest, dass Anna sich offensichtlich das Schlüsselbein gebrochen hatte.
»So etwas muss man schienen«, wusste der alte Mergel. »Wenn du das nicht schienst, wirst du dein Leben lang ein Krüppel bleiben.«
»Und wer soll das tun? Hier, mitten in der Einöde?«, fragte Anna. Sie hoffte inständig, dass nicht der heimliche Helfer von irgendwoher auftauchen und auch ihr ein Körperteil abhacken würde.
»Na ja, wenn Balthasar mir einen geraden Stock sucht und mir auch Verbandszeug bringt, dann werde ich das schon hinbekommen.« Mergel war zuversichtlich.
Gesagt, getan. Anna war eine halbe Stunde später fürs Erste versorgt. Doch der schreckliche Schmerz blieb, und ans Weiterziehen war unter diesen Umständen nun wahrlich nicht mehr zu denken.
Vollkommen erschlagen und ziellos zogen die drei den schmalen Pfad weiter. Irgendwohin würde er sie schon führen. Der Schnee wurde immer tiefer, und als wäre das nicht genug, tat sich auch noch der Himmel auf und schickte weitere Abertausende dichter, weißer Flocken auf das Gespann hinunter.
Schließlich aber – sie dachten bereits, in einer weißen Hölle gelandet zu sein – kamen sie an eine Weggabelung. Und an dieser Kreuzung erkannten sie, dass auf dem zweiten Weg, der sich dort mit dem ihrigen schnitt, viele andere vor ihnen entlanggekommen sein mussten. Und das war offensichtlich noch nicht lange her gewesen, fanden sie doch außer zahlreichen Fuß- und Pferdespuren auch noch einen warmen Pferdehaufen vor.
»Da müssen wir lang. Der führt bestimmt in ein Dorf«, schlug Mergel, auf seinem Karren sitzend, vor. Anna, die sich mit ihrer schmerzenden und äußerst unbequem geschienten schulter weiterhin zu Fuß fortschleppte, willigte müde ein.
Sie wählten also den zweiten Weg und entschieden sich, in die linke Richtung zu gehen, was schließlich dazu führte, dass sie immer weiter in den tiefen Winterwald gehen mussten. Oft führte der Pfad steil bergab, dann war es sehr schwer für den jungen Balthasar, das Pferd zu halten, welches ständig auszurutschen drohte. Manches Mal war die Gefahr groß, dass der Wagen einfach wieder auf- und davongleiten würde. Und auch Anna rutschte noch vier weitere Male aus, kam aber jedes Mal auf ihrem Hinterteil zum sitzen und konnte sich mit Hilfe des Jungen wieder aufrichten, ohne sich noch mehr Schmerzen zugefügt zu haben, als sie ohnehin schon hatte.
Am frühen Nachmittag endlich vernahmen sie hinter einer Wegbiegung Geräusche, die offensichtlich von Menschen herrührten, denen es gutging. Niemals, nicht im Traum hatte Anna damit gerechnet, so tief in einem dicht bewaldeten, engen Tal ein Dorf oder einen Hof aufzufinden.
Ein Dorf oder Hof war es denn auch nicht. Was sich vor ihnen erhob, als sie die Kurve passiert hatten, war ein Wirtshaus.
Aufgrund seiner Abgeschiedenheit und der Unwegsamkeit des umliegenden Geländes hätte man niemals mit seiner Existenz gerechnet und erst recht nicht damit, dass hier das Leben blühte. Es war eine Menge los in diesem nicht großen und reparaturbedürftigen Fachwerkhaus. Vor seiner Eingangstür waren mindestens zehn Pferde angebunden, und aus dem Innern waren die stimmen von etwa einem Dutzend fröhlicher Menschen zu hören.
»Das ist entweder ein Wunder, oder es geht nicht mit rechten Dingen zu«, staunte Hans Mergel angesichts dieses Anblicks.
»Wie kommen die denn alle hierher?«, fragte sich Anna.
»Vielleicht gibt es noch einen einfacheren Weg«, versuchte Balthasar das Phänomen zu erklären. Doch von einem zweiten Pfad war weit und breit nichts zu sehen, und tatsächlich gab es ihn auch nicht.
Dass täglich so viele Menschen den Weg in die »Dunkle Tanne« fanden, war tatsächlich ein Wunder, welches kaum zu erklären war. Es gab dieses Wirtshaus schon sehr lange. Damals war es am Rande eines kleinen Dorfes gelegen, welches nur wenige hundert Schritte entfernt in einer ebenen Waldlichtung entstanden war. Mühselig hatten seine Bewohner den Wald gerodet und versucht, im breiteren Teilen des Tales Landwirtschaft zu betreiben. Als die ersten zwei ertragreicheren Jahre vorüber waren, kam jedoch die Pest, und im Nu
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