Des Teufels Sanduhr: Roman (German Edition)
kritisch, niemand fragte sie, ob sie ihre Zeche auch zahlen könnten, und nicht einmal schmutzige Bemerkungen musste man über sich ergehen lassen. Die Stimmung war gelassen und ausgelassen zugleich. Und so kam es, dass sich alle drei sehr wohlfühlten.
Selbst Anna, die, mit neuem Verband und an den enormen Temperaturunterschied gewöhnt, nach einer stunde die Treppe hinunterkam, konnte nicht behaupten, dass es ihr sehr unangenehm war, an diesem Ort zu sein, an dem sie, zusammen mit der Wirtin, die einzige Frau war – noch.
Obwohl alle Gäste – es waren etwa zehn – ruhig und freundlich waren, sah man ihnen allen an, dass jeder für sich ordentlich Dreck am Stecken hatte; und da machte Anna bei keinem eine Ausnahme. Wenn das mal nicht ein ausgewiesenes Räuberloch war, dachte sie bei sich.
Da bestand für die sonst so gutgläubige Anna Pippel kein Zweifel. Auch Hans Mergel musste es wissen, doch offensichtlich schien ihm das nichts auszumachen. Er war gerade dabei, die Geschichte seiner Amputation zu erzählen, was die Zuhörer dahingehend inspirierte, dass auch sie sich die Kleider vom Leibe rissen, um dem alten Mann ihre sämtlichen im Krieg oder bei sonstigen Kämpfen zugezogenen Blessuren zu zeigen.
Da gab es nicht nur verheilte Einschusslöcher in Schultern und Beinen, da konnte man auch ausgelaufene Augen, durch-stochene Wangen, Brandmarkungen jeglicher Art, entsetzlich vernarbte Rücken und selbst eine abgeschnittene Zunge bewundern.
Jeder hatte sein eigenes Wehwehchen, und natürlich hatte auch jeder seine eigene Geschichte dazu, die nun erzählt wurde. Die Geschichte des Mannes ohne Zunge berichtete dessen Bruder, der über jedes Detail genau informiert war, während der Geschädigte selbst immer nur zustimmend nickte.
Bis in den späten Abend hinein unterhielt man sich prächtig über dieses eine einzige Thema, und sicherlich hätte man noch weiterreden können, wäre nicht das Unterhaltungsprogramm eröffnet worden.
Und dieses bot bei Weitem mehr, als man einer solch abgelegenen spelunke zugetraut hätte.
Eröffnet wurde der Abend von einer für Kriegszeiten ungewöhnlich beleibten Zigeunerin, die ihre üppigen Rundungen tief dekolletiert und zur Freude derjenigen Herren, die solche Formen mochten, zur Schau trug. In einer seltsamen Sprache – die jedoch an diesem Ort außer Anna jeder zu verstehen schien – erzählte sie eine offenbar unterhaltsame und, dem schmutzigen Lachen der Zuhörer zufolge, auch anrüchige Anekdote nach der anderen.
Mergel lachte laut, und selbst Balthasar kicherte unverhohlen mit. Anna jedoch blickte beide nur stumm an und ärgerte sich, dass sie lediglich einzelne Brocken begriff. Der Rest blieb ihr schleierhaft. Doch das, was sie da Schlüpfriges verstehen konnte, reichte ihr, um sich noch mehr zu ärgern.
»Was lacht ihr denn so dreckig, und was ist das überhaupt für eine Sprache?«, wollte sie von Mergel wissen.
»Rotwelsch«, antwortete dieser nur knapp, ohne seine Augen von der dicken Frau zu wenden.
Wenn er in diesem Moment Zeit dazu gehabt hätte, hätte Mergel Anna sicher erzählt, dass Rotwelsch eine Gaunersprache war, die sich besonders in diesem Krieg schnell verbreitete. Sie wurde in einem jeden Heer verstanden – sei es deutsch, spanisch, dänisch, böhmisch, ungarisch oder später auch französisch und schwedisch gewesen. Dabei handelte es sich um ein Gemisch aus verschiedenen Sprachen und Mundarten wie dem Deutschen, dem Spanischen, dem Jiddischen und der Zigeunersprache, und das wurde gerne als eine Verständigungsmöglichkeit zwischen Gleichgesinnten genutzt. Sei es, damit andere nicht zuhören konnten, sei es, weil man sich aufgrund unterschiedlicher nationaler oder regionaler Herkunft so am besten unterhalten konnte. Kurz: Gemeine Soldaten, Trossleute, anderes fahrendes Volk und auch herkömmliche Spitzbuben kannten diese Sprache, ohne dass auch nur einer von ihnen sie irgendwann mit Hilfe von Büchern und Vokabellisten gelernt hätte. Es war, als hätte man sie mit der Muttermilch aufgesogen, und das war der Grund, weshalb sich an diesem Ort alle prächtig amüsierten – nur die gute Anna nicht. Sie verstand kein Rotwelsch, weil sie aus einem anständigen Bauerndorf kam.
Als die üppige Zigeunerin die Bühne, das heißt den freien Raum in der Mitte der Schankstube, verließ, traten zwei junge Männer auf, die erstaunliche artistische Kunststücke vollführten. Danach kam ein Zauberer, der unter anderem die dicke Frau vom Beginn der Schau
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