Des Teufels Sanduhr: Roman (German Edition)
dass man nicht einmal eine Maus fangen konnte, brachte die allabendliche Kundschaft fast immer frisches Fleisch mit – Kaninchen, Reh, Rebhuhn, Wildschwein oder auch einmal ein geschlachtetes Pferd. Dass es durch wilddieberisches Treiben beschafft wurde, scherte Philipp Knopf nicht. Hauptsache, seine Frau hatte genügend in ihrem Kochtopf und konnte auf ihre unnachahmliche Weise auch aus wenigen Zutaten die üppigsten Speisen bereiten.
Alles in allem befanden sich Anna, Mergel und Balthasar in einem Wunderland, in dem sie jeden Abend neue und alte Gesichter zu sehen bekamen. Für Balthasar war es ganz besonders spannend, den Berichten der Soldaten, Wegelagerer und Spitzbuben zuzuhören, denn niemand, rein gar niemand, hielt mit dem Herausposaunen seiner kriminellen Machenschaften hinterm Berg. Hier war man sicher und konnte es sein, denn niemals wagten sich Büttel und Schergen in die »Dunkle Tanne«. Und waren dennoch einmal welche gekommen – das hatte es in dreihundert Jahren vielleicht viermal gegeben -, so waren diese niemals wieder dahin zurückgekehrt, von wo sie hergeschickt worden waren. Darüber, was ihnen widerfahren war, schwieg man sich jedoch aus.
Auch Anna begann diesen Ort zu lieben, und besonders liebte sie die Erzählungen von Elisabeth Knopf. Manchmal, wenn alle Gäste gegessen hatten und die Krüge frisch gefüllt auf den Tischen standen, setzte sich die Wirtin zu Anna und erzählte mit ihrer warmen, dunklen stimme die hinreißendsten Liebesgeschichten.
Anna war dann stets eine begeisterte Zuhörerin, beflügelte doch die Liebe anderer Menschen auch ihre Fantasie und weckte in so manch kalter und einsamer Winternacht die aufregenden Erinnerungen an ihre Begegnung mit dem blonden Reiter. Wie schön wäre es, so dachte Anna häufig, während sie den fremden Romanzen lauschte, wenn auch sie eines Tages eine solche Geschichte erleben dürfte. Zwar waren diese Liebesgeschichten oft traurig und endeten fast immer tragisch, doch ergreifend waren sie allesamt, und alle erzählten sie auch von Gefühlen, die Anna in dieser Tiefe noch niemals empfunden hatte. Von denen sie sich aber wünschte, sie irgendwann einmal – vielleicht in der Zukunft im fernen Bayern – erleben zu dürfen.
Da war die Geschichte der schönen Spanierin, die ihren verloren geglaubten Geliebten suchte und dabei durch halb Europa reiste. Kurz bevor sie sich wiederfanden, kam sie in einem kleinen deutschen Dorf nieder, gebar zwei gesunde Kinder und verstarb an den Folgen der schweren Geburt. Nur stunden danach traf ihr Liebster ein – zu spät. Weinend konnte er nur noch seine tote Frau im Arm halten, der er ewige Liebe schwor.
Dann war da die Geschichte des jungen Edelfräuleins, das sich unsterblich in den Sohn des Stallmeisters verliebt hatte und von diesem in die Herberge der Knopfs entführt worden war. Wochenlang hatte sich das junge Paar dort verborgen und bereits geglaubt, dass die Schergen des Vaters die Suche nach der Tochter aufgegeben hätten. Doch kaum hatten sie ihre Herberge verlassen und waren nur wenige hundert Schritte in den Wald geritten, als sie aufgespürt und zum schloss des Vaters zurückgebracht worden waren. Der Junge wurde in den Kerker geworfen und starb bald an einer Lungenentzündung. Vor Schmerz und Verzweiflung über den Verlust ihres Geliebten hatte sich das Mädchen wenig später vom Wachturm gestürzt, um ihm in den Tod zu folgen.
An solchen und ähnlichen Geschichten besaß Elisabeth Knopf einen schier unerschöpflichen Fundus. Sicherlich entsprachen nicht alle der Wahrheit, da machte Anna sich keine Illusionen – aber schön waren sie, sehr schön. Am ergreifendsten jedoch war für Anna eine Geschichte, die Elisabeth Knopf mit besonders trauriger Stimme erzählte. Eine Geschichte, die nicht von wahrer, sondern von falscher Liebe handelte – eine Geschichte, so frei von Kitsch und Herzschmerz, wie nur das wirkliche Leben sie hatte schreiben können. Alles, und davon war Anna überzeugt, hatte sich genau so zugetragen.
XVIII
Eine Zeitlang«, so erinnerte sich Elisabeth Knopf, »eine Zeitlang kam Jahr für Jahr ein und dieselbe fahrende Gruppe zu uns. Es waren Theaterleute, allesamt herzliche Menschen. Unter ihnen befand sich ein Mädchen mit wunderschönen großen Rehaugen. Ein hübsches Ding, das es verstand, sich geschickt von den derben Männerhänden fernzuhalten.
Sie war noch sehr jung und erzählte mir damals, wie verliebt sie sei. In einen Studenten habe sie sich verguckt, in
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