Des Teufels Sanduhr: Roman (German Edition)
einen, der die herrlichsten Gedichte aufsagen könnte. Und weil er im Moment auf Wanderschaft sei, da er eine neue Universität suche, würden sie sich häufiger treffen. Das nächste Mal in Marburg, so war es verabredet.
Im zweiten Jahr brachte sie ihn mit, ihren Studiosus. Er hatte wohl keine Universität gefunden, die ihn aufnehmen wollte, und sich deshalb den Theaterleuten angeschlossen. Ihre Liebe zu ihm war groß, doch er machte nicht den Anschein, dass ihm viel an ihr lag. Er war schweigsam und verschlossen, sagte wenig, und wenn er sprach, dann verstand man ihn nicht, weil er so gebildet war. Die Theaterleute lachten viel über ihn, aber das Mädchen, Felicitas, ließ nichts auf ihn kommen.
Im dritten Jahr kamen sie wieder, doch dieses Mal war Felicitas allein. Ihr Liebster hatte sie verlassen, und sie war todunglücklich darüber. Zumal sie ein Kind von ihm erwartete. sie habe ihn mit der Franzosenkrankheit angesteckt, habe er ihr vorgeworfen. Doch das Mädchen schwor Stein und Bein, niemals mit einem anderen Mann als ihm zusammen gewesen zu sein. Niemals, so hörte sie nicht auf zu wiederholen, habe sie sich mit solch einer Krankheit anstecken können. Ich jedoch hatte schon im Jahr zuvor gesehen, dass sich ihre Haut am Haaransatz braun gefärbt hatte und ihr stellenweise die Haare ausgefallen waren. Das hatte ihrer Schönheit keinen Abbruch getan, sie hatte genügend Haare – doch ein untrügliches Zeichen für die Franzosenkrankheit ist es allemal. Ich weiß, wovon ich spreche.
Nun war also der Mann fort und hatte ihr zwei Dinge dagelassen, eine schreckliche Krankheit und ein Kind. Das Kind gebar sie hier in einem der Gästezimmer. Ich hätte nie geglaubt, dass es überlebt, so wie es aussah.
Meine Schwester – und das sag ich dir jetzt ganz im Vertrauen – hat auch diese Krankheit, und sie hat trotzdem ein Kind bekommen. Die Kleine ist nach einem halben Jahr gestorben, sie war auf die gleiche Weise missgestaltet wie Felicitas’ Kind. Anders als andere Säuglinge hatten beide Kinder eine ungeheuer schrumpelige Haut, ja sie sahen aus wie kleine Greise. Und ihre Handflächen und Fußsohlen waren übersät mit Pusteln. Und dann dieser Schnupfen, dieser Schnupfen, der niemals aufhörte.
Es war ein Wunder, dass der kleine Pippin überlebte.
Die Theaterleute waren entsetzt, als sie das Kind sahen. Sofort wurde beschlossen, es zu verbergen. Niemand sollte es zu Gesicht bekommen. Das war klug von ihnen, denn die Menschen können grausam sein. Wird doch von solchen Schaustellern immer erwartet, dass sie Monstergeburten bei sich führen, um damit die Leute zu belustigen. Und wenn es dann einmal einen Wetterschaden oder eine Viehseuche gibt und die fahrenden Leute sind gerade in der Nähe, dann wird die Belustigung schnell vergessen, und der geeignete Sündenbock ist gefunden. Schließlich sind sie ja mit dem Teufel im Bunde, weil sie Wechselbälger bei sich aufnehmen. Nun, so ist das mit dem unwissenden, abergläubischen Volk.«
Anna nickte. Ähnlich besonnen waren auch Lieses Worte gewesen, als Therese ihr krankes Kind geboren hatte.
»Im vierten Jahr kehrten sie wieder. Der kleine Pippin lebte noch immer. Er wurde hinten in einem der Plankarren der Gruppe versteckt. Mittlerweile war er im ganzen Gesicht vernarbt, der arme Bub. Das kommt von den Blasen, die sich durch die Krankheit überall bilden. Er war sehr lieb und verbrachte in seinem Versteck mitunter einen ganzen Tag allein. Felicitas liebte ihr Kind und machte sich große Sorgen wegen seines ewigen Schnupfens. Der hatte schon das Näschen von innen so kaputtgemacht, dass es von außen ganz eingefallen war.
Mehr noch als ihr Kind liebte sie nach wie vor ihren Studenten, in einem fort sprach sie von ihm und sang stets dieses Lied – wie ging es noch gleich? Kennst du das blaue Blümchen … Nein, so war es nicht. Wie auch immer, es ging um ein abgemähtes Blümchen und um verschmähte Liebe. Weißt du von dem Blümlein blau …«
Anna fiel Elisabeth ins Wort:
»Weiß mir ein Blümlein blaue, von himmelklarem Schein
Es steht in grüner Aue und heißt Vergissnichtmein
Ich kunnt es nimmer finden, war mir verschwunden gar;
Von Reif und kalten Winden ist es mir worden fahl.
Das Blümlein, das ich meine, ist braun, steht auf dem Ried.
Von Art ist es so kleine, es heißt: Nun hab mich lieb!
Das ist mir abgemäht wohl in dem Herzen mein.
Mein Lieb hat mich verschmäht. Wie mag ich fröhlich sein?«
Elisabeth schaute Anna überrascht an.
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