Des Teufels Sanduhr: Roman (German Edition)
würde man das Licht vom Lager aus schon nicht sehen, und Wärme hatten sie jetzt bitter nötig.
Hans Mergel war derweil zum zweiten Mal versorgt worden. Anna hatte ihm den Arm eingekugelt und dabei ein sprüchlein aufgesagt, welches sie von ihrer Mutter kannte:
»Christus der Herr Jesus ging über ein Gass, Die war sich wüst und nass, Er trat auf einen Stein, Verrenkte sich Ader und auch sein Bein. Bein zu Bein, Ader zu Ader, Blut zu Blut, Fleisch zu Fleisch.«
Nach und nach kam der alte Mann an diesem Tag wieder zu Bewusstsein und konnte schon ein paar Brocken Brot und Käse zu sich nehmen. Der Junge redete nicht viel, er war etwas verängstigt, und Anna ließ ihn gewähren. Sicherlich brauchte er seine Zeit, um aufzutauen und Vertrauen zu gewinnen. Ihr würde es an seiner Stelle nicht anders gehen.
Erst als sie es sich im Windschatten des Eselskarrens unter einer ledernen Zeltplane einigermaßen bequem gemacht hatte, kam Anna dazu, über die neue Situation nachzudenken. Wenn man durch den Birkenhain ging und über den Rand der Hügelebene blickte, konnte man die Lichter des Lagers sehen. Dort unten warteten Liese und Therese auf ihren Tod.
Annas Hals schnürte sich zu, und Tränen schossen ihr in die Augen. Doch richtig weinen konnte sie nicht. Stattdessen blickte sie starr und immer wieder tief durchatmend in die Dunkelheit. Sie dachte an den morgigen Tag, an dem ihre ehemaligen Begleiterinnen unter höllischen Schmerzen den Tod finden würden. Das stand fest, und es tat Anna weh, so weh, dass sie sich einredete, die beiden seien längst gestorben. Die kahlen Kreaturen, die dort am gestrigen Abend in die Zelle gestoßen worden waren, hatten nichts mehr mit der resoluten Liese und der robusten Therese gemein gehabt, das waren schon Leichen gewesen. Man hatte ihren Willen bereits gebrochen, jetzt hieß es nur noch ihre Körper zu erlösen.
Irgendwann verfiel Anna in einen unruhigen Schlaf, aus dem sie durch die ungewöhnliche Stille der Natur immer wieder aufgeschreckt wurde.
Schon früh am Morgen – es war noch dunkel – weckte sie das Rufen des alten Mergel. Dieser hatte die Nacht in dem Eselskarren verbracht. Nun war er wach und klagte über höllischen Durst. Anna gab ihm reichlich Wasser zu trinken, welches er hastig hinunterspülte. Erstmals seit drei Tagen begann er nun zu reden. Anna war erleichtert, es schien ihm besser zu gehen.
»Anna, sag mir, was wir jetzt machen. Wohin gehen wir?«
»Wir ziehen nach Heidelberg. Kennst du Heidelberg?«
»Ja, natürlich, ich war doch damals bei der Belagerung dabei. Das war noch mit dem Tilly-Heer, ging den ganzen sommer, von Juni bis September, das war genau im Jahre 1622, ist also schon ein paar Jährchen her. Weiß aber noch genau, wie man dort hinkommt. Kenne mich ja gut in Deutschland aus. Kannst du mir noch etwas Wasser geben, Anna?«
Anna schmunzelte traurig, er war noch immer der Alte. Welch ein Lichtblick an diesem düsteren Tag.
»Hier, trink. Und dann werde ich dir deine Verbände wechseln. Will hoffen, dass es keinen Wundbrand gibt.«
»Wie geht es der Liese? Sie wird doch wohl entkommen. Wir wollen hier auf sie warten, oder?«
»Ich weiß nicht, ob sie flüchten kann, Hans. Ich glaube es nicht. Sie war schon sehr schwach, schwächer noch als du.«
»Dann musst du sie holen, Anna. Sie darf nicht dort bleiben. Wir können das doch nicht einfach geschehen lassen.«
»Ich kann doch nichts machen. Was soll ich da ausrichten? Wir dürfen uns dort nicht mehr blicken lassen, sonst blüht uns das gleiche Schicksal.«
»Aber der Mann, der feine Herr, von dem wir den Wagen haben – ich konnte ihn nicht mehr genau erkennen, war schon zu müde -, kann der ihr nicht helfen? suche ihn und sag ihm, er solle sich einsetzen für Liese und auch für die arme Trese.«
»Aber ich weiß doch gar nicht …« Anna durchlief es plötzlich glühend heiß, und ein schrecklicher Schmerz machte sich in ihrem Körper breit. Wieso war sie nicht auf die Idee gekommen, dass der fremde Reiter auch ihren beiden Begleiterinnen helfen könnte? Sie hätte es wenigstens versuchen können.
Nicht schüchternheit, Bequemlichkeit oder Selbstsucht waren die Gründe für diese unterlassene Hilfeleistung gewesen. Nein, Anna wusste ganz genau, weshalb sie nie auf den Gedanken verfallen war, den Edelmann um Unterstützung zu bitten. Der Grund war einfach: Sie glaubte, das schicksal anderer Menschen genauso wenig in der Hand zu haben wie ihr eigenes. Man konnte beten, konnte hoffen,
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