Desperation
Klapperschlange. Auf jeden Fall eine mit Giftzähnen.
Cynthia hob ruckartig den Kopf. Ihre Augen waren groß
und erschrocken. Sie packte ihn am Hemd und zog daran.
»Was machen wir hier?« fragte sie. »Wir sind hier nicht im
Kunstunterricht, Herrgott noch mal - wir müssen hier raus!« Ja, das stimmt, dachte Steve. Die Frage ist nur, wohin gehen wir?. Darüber konnten sie sich im Bus Gedanken machen. Nicht
hier. Er hegte die Befürchtung, daß es hier drinnen unmöglich
sein würde, einen vernünftigen Gedanken zu fassen.
»He, was ist mit dem Radio passiert?« fragte sie.
»Hm?« Er horchte, aber die Musik war verstummt. »Keine
Ahnung.«
Mit einem seltsam entschlossenen Gesichtsausdruck streckte
Cynthia wieder die Hand nach dem bröckeligen Fragment auf
dem Tisch aus. Diesmal berührte sie es zwischen den Ohren.
Sie stöhnte. Die Deckenlichter flackerten - Steve sah, wie sie
flackerten -, und das Radio ging wieder an. »Hey Dwight, hey
Lyle, boys, you don’t need to fight«, sang Mary Chapin Carpenter,
von statischem Rauschen begleitet, »Hot dog, I feel lucky tonight« »Himmel«, sagte Steve. »warum haben Sie das getan?«
Cynthia sah Steve an. Ihr Blick wirkte seltsam verschwommen. Sie zuckte die Achseln und fuhr mit der Zungenspitze
über die Mitte der Oberlippe. »Ich weiß nicht.« Plötzlich hielt
sie die Hände an die Stirn und drückte fest auf ihre Schläfen.
Als sie die Hände wieder wegnahm, waren ihre Augen klar,
aber ängstlich. »Was soll das, zum Teufel?« sagte sie mehr zu
sich selbst als zu ihm.
Steve streckte die Hand aus, um den Stein selbst zu berühren. Sie hielt ihn am Handgelenk fest. »Nein, nicht, das ist ein
ekelhaftes Gefühl.«
Er schüttelte sie ab und legte einen Finger auf den Rücken
des Wolfs (auf einmal war er sicher, daß es sich darum handelte, nicht um einen Kojoten, sondern um einen Wolf). Das Radio ging wieder aus. Im selben Augenblick ertönte irgendwo
hinter ihnen das Klirren von Glasscherben. Cynthia stieß
einen erstickten Schrei aus.
Steve hatte den Finger schon wieder von dem Stein genommen; das hätte er auch getan, wenn nichts passiert wäre, weil
sie recht hatte: Es war ein ekelhaftes Gefühl. Aber einen Augenblick lang passierte doch etwas. Es war zunächst einmal so,
als hätte ein wichtiger Stromkreis in seinem Kopf einen Kurzschluß gehabt. Aber… hatte er nicht an das Mädchen gedacht?
Daran etwas mit dem Mädchen zu tun? Etwas, das sie beide
liebend gerne ausprobieren würden, worüber sie aber nie mit
ihren Freunden reden könnten? Eine Art von Experiment?
Noch während er darüber nachdachte und sich überlegte,
was das für ein Experiment gewesen sein könnte, streckte er
den Finger wieder nach dem Stein aus. Er traf keine bewußte
Entscheidung, das zu tun, aber jetzt schien es ihm eine gute
Idee zu sein. Laß den alten Finger doch machen, was er will, dachte er versonnen. Laß ihn anfassen, was er
Sie packte seine Hand und drückte sie weg von dem Stein,
als er gerade den Finger auf den Rücken des Wolfs legen wollte. »He, Sportsfreund, hören Sie mir gut zu: Ich will hier raus!
Sofort!«
Er holte tief Luft und stieß sie wieder aus. Wiederholte den
Vorgang. Sein Kopf kam ihm wieder vertraut vor, aber plötzlich hatte er mehr Angst denn je. Wovor genau, vermochte er
nicht zu sagen. War nicht einmal sicher, ob er es wissen wollte. »Okay. Gehen wir.«
Er nahm sie bei der Hand und führte sie in den Flur zurück.
Einmal sah er über die Schulter zurück zu der bröckeligen
grauen Skulptur. Verdrehter Raubtierkopf. Hervorquellende
Augen. Zu lange Schnauze. Schlangenzunge. Und dahinter
etwas anderes. Die Helix und der exhibitionistische Goofy
waren verschwunden. Die Monitore waren dunkel, als wären
sie durch einen Stromausfall abgeschaltet worden.
Wasser strömte durch die offene Tür des Büros mit dem
Aquarium herein. Ein Fisch lag gestrandet auf der Kante des
Teppichs in den letzten Zuckungen. Nun, dachte Steve, jetzt
wissen wir, was kaputtgegangen ist, keine Frage.
»Sehen Sie nicht rein, wenn wir vorbeigehen«, sagte er.
»Einfach nur -«
»Haben Sie eben was gehört?« fragte sie. »Poltern oder
klopfen oder so was?«
Er horchte, hörte nur den Wind … und glaubte dann, ein
verstohlenes Schlurfen hinter ihnen zu hören.
Er wirbelte rasch herum. Nichts zu sehen. Natürlich nicht
was hatte er sich nur eingebildet? Daß sich eine der Leichen
von ihrem Haken gelöst hatte und sie verfolgte? Albern.
Selbst unter diesen extremen Umständen war das
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