Desperation
den Boden, legte die Hände
auf den gesenkten Kopf und ließ sie da, während er schluchzte
und versuchte, nicht ohnmächtig zu werden. Seine Tränen zogen Bahnen in den grünen Glibber auf seinem Gesicht. Am meisten schmerzte ihn das Bewußtsein, daß die Tür, die zwischen
ihnen ins Schloß gefallen war, sich nie mehr öffnen lassen
würde, wenigstens nicht in dieser Welt. Er würde nie miterleben, wie Törtchen ihre erste Verabredung hatte oder zwei Sekunden vor dem Schlußpfiff noch einen Korb warf. Sie würde
ihn nie mehr bitten, ihr zuzusehen, wie sie einen Kopfstand
machte, oder ihn fragen, ob das Licht im Kühlschrank auch
dann anblieb, wenn die Tür zugemacht wurde. Jetzt begriff er,
warum Leute in der Bibel sich die Kleider zerrissen.
Als er seine Beherrschung wiedergewonnen hatte, zog er
einen der Stühle von der Wand zu der Stelle, wo sie hing. Er
betrachtete ihre Hände, die rosa Handflächen, und ihm
wurde wieder schwindlig. Er bezwang das Schwindelgefühl .und freute sich schon allein darüber, daß er es tatsächlich
konnte, als er es versuchte. Dieses Schwanken, das die Trauer
mit sich brachte, stellte sich stärker als zuvor wieder ein, als er
sich auf den Stuhl stellte und die unnatürlich wächserne
Farbe ihres Gesichts und den Purpurton ihrer Lippen sah.
Vorsichtig ließ er der Traurigkeit ein klein wenig Spielraum.
Er spürte, daß es besser für ihn sein würde, das zu tun. Sie war
die erste Tote, die er sah, aber sie war auch Törtchen, und er
wollte sich nicht vor ihr fürchten oder ekeln. Daher war es
besser, traurig zu sein, und das war er. Das war er wirklich. Beeil dich, David.
Er war nicht sicher, ob es sich hier um seine Stimme oder die
des anderen handelte, aber diesmal spielte es keine Rolle. Die
Stimme hatte recht. Törtchen war tot, aber sein Vater und die
anderen oben nicht. Nicht zu vergessen seine Mutter. Das war
am schlimmsten, in gewisser Weise noch schlimmer als das,
was Törtchen zugestoßen war, weil er es nicht wußte. Der irre
Cop hatte seine Mutter irgendwohin mitgenommen und
konnte alles mögliche mit ihr anstellen. Alles mögliche.
Aber daran werde ich nicht denken. Ich werde es nicht dulden. Statt dessen dachte er an die vielen Stunden, die Törtchen
mit Melissa Sweetheart auf dem Schoß vor dem Fernseher
verbracht und sich Barney angesehen hatte. Im letzten Jahr
oder so hatte der purpurrote Dinosaurier seinen Ehrenplatz in
ihrem Herzen an die MotoKops verloren (besonders an Cassie
Styles und den gutaussehenden Colonel Henry), dennoch
schien Barney für David die richtige Lösung zu sein. Er konnte sich nur noch an eines der unbeschwerten Liedchen von
Barney erinnern, das zur Melodie von »This Old Man« gesungen wurde, und das sang er jetzt, während er den Arm um das
tote Mädchen legte und sie von dem Haken nahm: » I love
you… you love me …«
Ihr Kopf fiel auf seine Schulter. Er war erstaunlich schwer wie hatte sie ihn, so klein, wie sie war, nur den ganzen Tag
oben halten können?
»We’re a happy familiy …«
Er drehte sich um, stieg linkisch von dem Stuhl herunter,
stolperte, fiel aber nicht, und trug Törtchen zum Fenster. Dabei strich er ihren Rock glatt. Der Stoff war zerrissen, doch nur
ein wenig. Er legte sie hin, wobei er ihr eine Hand unter den
Nacken hielt, damit sie sich den Kopf nicht auf dem Boden anstieß. So hatte Mom es ihm gezeigt, als Törtchen ein Baby gewesen war und er gebeten hatte, sie halten zu dürfen. Hatte er
ihr da auch vorgesungen? Er konnte sich nicht erinnert.
Möglicherweise hatte er es getan.
» With a great big hug and a kiss from me to you …»
Häßliche grüne Vorhänge hingen an den Fenstern, die
schmal waren und zwei Meter siebzig vom Boden bis zur
Decke reichten. David riß einen der Vorhänge herunter.
» Won’t you say you love me, too?«
Er breitete den Vorhang neben dem Leichnam seiner Schwester aus und sang das alberne Lied von vorne. Er wünschte
sich, er könnte ihr Melissa Sweetheart zur Gesellschaft mitgeben, aber ‘Lissa lag bei dem Wayfarer. Er hob Törtchen auf den
Vorhang und legte die untere Hälfte über sie. Der Stoff reichte
ihr bis zum Kinn, und nun, fand er, sah sie besser aus, viel besser. Als ob sie zu Hause schlafend im Bett läge.
»With a great big hug and a kiss from me to you …«, sang er, »Won’t you say you love me, too?« Er gab ihr einen Kuß auf die
Stirn. »Ich liebe dich wirklich«, sagte er und zog die obere
Hälfte des Vorhangs über sie.
Er blieb einen Augenblick an
Weitere Kostenlose Bücher