Desperation
siebenjährige Tochter die Treppe hinuntergestoßen.
Ellie hatte sie festhalten wollen, da hatte ihr der Verrückte einen
Schlag aufs Auge verpaßt und sie niedergestreckt. Aber Ellie
war auf die Treppe gefallen, und Kirsten war hinunterge stürzt, mit vor Schock und Überraschung so weit aufgerissenen
Augen, daß Ralph nicht wußte, ob sie begriffen hatte, was mit
ihr geschah, und wenn er sich an etwas klammern konnte, dann
daran, daß alles zu schnell geschehen war, als daß es ihr bewußt
werden konnte, und dann war sie aufgeprallt, hatte sich überschlagen, ihre Füße waren zuerst nach oben und dann nach hinten gewirbelt, dieses Geräusch war ertönt, dieses schreckliche
Geräusch, wie ein Zweig, der unter der Last von Eis bricht, und
plötzlich hatte sich alles an ihr verändert, er hatte die Veränderung gesehen, bevor sie am Ende der Treppe liegenblieb, als
wäre das da unten kein kleines Mädchen gewesen, sondern
eine ausgestopfte Puppe mit einem Kopf voller Stroh.
Denk nicht daran, denk nicht daran, wage es nicht, daran zu
denken.
Aber er mußte. Wie sie aufgeprallt war … wie sie am Fuß
der Treppe gelegen hatte, mit verdrehtem Kopf …
Er sah, daß frisches Blut auf seine linke Hand tropfte. Offenbar stimmte etwas nicht mit dieser Seite seines Kopfs. Was
war passiert? Hatte der Cop ihn auch geschlagen, möglicherweise mit dem Kolben der monströsen Schußwaffe, die
er trug? Er hielt es für möglich, aber dieser Teil war weitgehend ausradiert. Er konnte sich an ihren schrecklichen Purzelbaum erinnern und daran, wie sie den Rest der Treppe hinuntergerutscht war, wie sie mit dem abgewinkelten Kopf zu
liegen kam, und das war alles. Gott, war das nicht genug?
»Ralph?« Ellie zog an ihm und atmete keuchend. »Ralph,
steh auf! Bitte, steh auf!«
»Dad! Daddy, komm schon!« Das war David, etwas weiter
entfernt. »Ist er okay, Mom? Er blutet wieder, oder?«
»Nein … nein, er -«
»Doch, er blutet, ich kann es von hier aus sehen. Daddy, alles okay?«
»Ja«, sagte er. Er schaffte es, einen Fuß unter sich zu stemmen, tastete nach der Pritsche und richtete sich auf. Sein linkes Auge war blutverklebt. Das Lid fühlte sich an, als wäre es
in Mörtel getunkt worden. Er wischte es mit dem Handrücken
ab und zuckte zusammen, als neuer Schmerz ihn durchfuhr die Stelle über seinem linken Auge fühlte sich an wie ein frisch
geklopftes Schnitzel. Er versuchte, sich umzudrehen, in die
Richtung, aus der sein Sohn gesprochen hatte, und taumelte.
Es war, als stünde er auf einem Boot. Sein Gleichgewichtssinn
war im Eimer, und selbst wenn er sich nicht drehte, kam es
ihm in seinem Kopf so vor, als würde er es immer noch tun,
taumeln und wanken, immer rundherum. Ellie packte ihn,
stützte ihn, half ihm beim Gehen.
»Sie ist tot, nicht wahr?« fragte Ralph. Seine erstickte Stimme kam aus einem mit geronnenem Blut ausgeschlagenen
Hals. Er konnte nicht glauben, was diese Stimme da sagte,
dachte sich aber, daß er es mit der Zeit tun würde. Das war das
Schlimmste. Mit der Zeit würde er es tun. »Kirsten ist tot.«
»Ich glaube ja.« Diesmal stolperte Ellie. »Halt dich am Gitter fest, Ralph, schaffst du das? Du wirfst mich um.«
Sie befanden sich in einer Gefängniszelle. Vor ihm, gerade
außerhalb seiner Reichweite, lag die Gittertür. Die Stäbe waren weiß gestrichen, an manchen Stellen war die Farbe zu dikken, harten Tropfen erstarrt. Ralph machte einen Schritt vorwärts und hielt sich daran fest. Er sah einen Schreibtisch vor
sich, der mitten im Zimmer stand wie das einzige Requisit
eines minimalistischen Theaterstücks. Papiere lagen darauf,
eine doppelläufige Flinte und ein Haufen dicker grüner
Schrotpatronen. Der altmodische Schreibtischstuhl aus Holz
in der Knieöffnung hatte Rollen an den Füßen, ein verblichenes grünes Kissen lag auf dem Sitz, als hätte die Person, die
normalerweise dort saß, Hämorrhoiden oder ein anderes einigermaßen intimes Problem. An der Decke hing eine Lampe in
einem Drahtgeflecht. Die toten Fliegen im Glas warfen riesige,
groteske Schatten.
An drei Seiten dieses Raums lagen Gefängniszellen. Die in
der Mitte, wahrscheinlich die Ausnüchterungszelle, war groß
und leer. Ralph und Ellie steckten in der kleineren. Eine zweite kleine Zelle rechts von ihnen war leer. Ihnen gegenüber befanden sich zwei weitere Zellen von der Größe eines Kleiderschranks. In einer saß David, ihr elfjähriger Sohn, und ein
Mann mit weißem Haar. Sonst konnte Ralph nichts von dem
Mann sehen, weil er mit
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