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Desperation

Desperation

Titel: Desperation Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King
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dem Kopf zwischen den Händen auf
der Pritsche saß. Als die Frau unten wieder schrie, drehte sich
David in diese Richtung, wo durch eine offene Tür eine
Treppe zu sehen war,
(Kirsten, Kirsten fällt, das knackende Geräusch, mit dem ihr Genick bricht)
die ins Erdgeschoß führte, aber der weißhaarige Mann
veränderte seine Haltung nicht im geringsten.
Ellie trat neben ihn und legte ihm einen Arm um die Taille.
Ralph riskierte es, eine Hand von den Gitterstäben zu nehmen, damit er ihre halten konnte.
Nun erklangen Schritte auf der Treppe, die näher kamen,
und schlurfende Laute. Jemand wurde heraufgebracht, um
ihnen Gesellschaft zu leisten, wehrte sich aber.
» Wir müssen ihm helfen!« schrie sie. » Wir müssen Peter helfen!
Wir-«
    Ihre Worte verstummten, als sie in den Raum gestoßen wurde. Sie durchquerte ihn mit der unheimlichen Anmut
einer
Ballerina, auf Zehenspitzen tänzelnd, ihre weißen Schuhe sahen wie Ballettschuhe aus, das Haar flog ihr um den Kopf, sie
hatte die Arme ausgestreckt und Jeans und ein verblichenes
grünes T-Shirt an. Sie prallte gegen den Schreibtisch, rammte
ihn so heftig mit den Oberschenkeln, daß er nach hinten auf
den Stuhl zu rutschte, und dann schrie David von der anderen
Seite des Raums schrill wie ein Vogel, hielt sich an den Gitterstäben fest und sprang dabei auf und ab, kreischte mit einer
wilden, von Panik erfüllten Stimme, die Ralph noch nie
gehört hatte, die er sich nicht mal im Traum hätte vorstellen
können.
»Die Flinte, Lady!« schrie David. »Nehmen Sie die Flinte, erschießen Sie ihn, erschießen Sie ihn, Lady, erschießen Sie ihn!« Nun endlich sah der weißhaarige Mann hinter ihm auf. Sein
Gesicht war alt und von der Wüstensonne braungebrannt; die
Tränensäcke unter seinen wäßrigen Trinkeraugen verliehen
ihm das Aussehen eines Bluthunds.
Die Frau in Jeans und T-Shirt sah dahin, wo die Stimme des
Jungen ertönte, dann über die Schulter zur Treppe und den
stapfenden Schritten.
»Los doch!« stimmte Ellie neben Ralph ein. »Er hat unsere
Tochter getötet, er wird uns alle töten, los!«
Die Frau in Jeans und T-Shirt griff nach der Waffe.
2
    Bis Nevada war alles prima gelaufen.
Sie waren als vier fröhliche Wanderer aus Ohio gestartet,
unterwegs zum Lake Tahoe. Dort wollten Ellie Carver und die
Kinder zehn Tage lang schwimmen, Ausflüge unternehmen
und die Sehenswürdigkeiten anschauen, während Ralph Carver spielen
wollte - langsam, genüßlich und mit äußerster
Konzentration. Es war ihre vierte Urlaubsreise nach Nevada,
die zweite nach Tahoe, und er würde sich wieder an die eisernen Regeln halten, die er sich für das Spielen gestellt hatte: Er
würde aufhören, wenn er a) tausend Dollar verloren, oder b)
zehntausend gewonnen hatte. Bei ihren drei vorherigen Ausflügen hatte er weder die eine noch die andere Marke erreicht.
Einmal waren sie mit fünfhundert Dollar seines Spielkapitals
zurückgefahren, einmal mit zweihundert, und letztes Jahr
hatten sie die Heimreise mit über dreitausend Dollar in der
linken Innentasche seiner Safarijacke angetreten. Auf der
Fahrt hatten sie in Hiltons und Sheratons übernachtet, statt
auf Campingplätzen im Wohnmobil, und die Eltern Carver
hatten es in jeder verdammten Nacht miteinander getrieben.
Ralph fand das phänomenal für Leute, die auf die Vierzig zugingen.
»Wahrscheinlich hast du die Casinos satt«, hatte er in diesem Februar gesagt, als sie über den Urlaub redeten und anfingen zu planen. »Vielleicht zur Abwechslung mal Kalifornien? Mexiko?«
»Klar, da können wir uns alle Durchfall holen«, hatte Ellie
geantwortet. »Und uns zwischen den Sprints zur Casa de
Caca, oder wie immer sie da unten dazu sagen, den Pazifik
anschauen.«
»Wie war’s mit Texas? Wir könnten den Kindern den Alamo
zeigen.«
»Zu heiß, zu geschichtsträchtig. Tahoe ist selbst im Juli
kühl. Den Kindern gefällt es dort. Mir auch. Und wenn du
nicht kommst und mein Geld verlangst, weil du deins verspielt hast -«
»Du weißt, daß ich das nie tun würde«, hatte er schockiert
gesagt. Tatsächlich war er ein wenig schockiert gewesen. Die
beiden saßen in der Küche ihres Vororthauses in Wentworth,
nicht weit von Columbus, saßen vor dem bronzefarbenen
Fridgidaire-Kühlschrank mit den magnetischen Gänseblümchen-Stickern, die überall darauf verteilt waren, hatten Reiseprospekte vor sich auf dem Tisch liegen und wußten beide
nicht, daß das Spiel bereits begonnen hatte und der erste Verlust ihre Tochter sein wurde. »Du weißt, was ich

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