Desperation
durchgemacht, hätte
man denken können, es sei Ellen Carver mit einer schlimmen Erkältung. »Warten Sie, Mary! Ich will mit Ihnen
kommen! Ich will David sehen! Wir gehen gemeinsam zu
ihm!«
»Geh zum Teufel«, flüsterte Mary. Sie drehte sich um und
ging weiter, entwand der Luft jeden Atemzug und rieb sich
die schmerzende Seite. Wenn sie gekonnt hätte, wäre sie gerannt.
»Mary-Mary-quite-contrary!« Nicht lachend, aber beinahe.
»Sie können nicht entkommen, Teuerste
- wissen Sie das
nicht?«
Der Rand der Grube schien so weit entfernt zu sein,
daß Mary nicht mehr hinsah und statt dessen ihre Turnschuhe betrachtete. Als die Stimme hinter ihr das nächste Mal ihren Namen rief, schien sie näher zu sein. Mary
zwang sich, ein wenig schneller zu gehen. Sie stürzte noch
zweimal, bevor sie den Rand erreichte, beim zweitenmal
so sehr, daß ihr die Luft wegblieb und es sie kostbare,
kostbare Sekunden kostete, in denen sie erst kniete und
dann mit gesenktem Kopf und an die Hüften gepreßten
Händen dastand, bis sie wieder zu Atem gekommen war.
Sie wünschte sich, Ellen hätte wieder gerufen, aber das tat
sie nicht. Und Mary wollte sich nicht mehr umdrehen. Sie
hatte zu große Angst davor, was sie zu sehen bekommen
könnte.
Fünf Meter vom Kamm entfernt drehte sie sich dann doch
um. Ellen war keine zwanzig Meter unter ihr und keuchte
lautlos durch einen so weit aufgesperrten Mund, daß er
wie ein Luftschacht aussah. Bei jedem Ausatmen stieß sie
feine Blutströpfchen mit aus; ihre Bluse hatte sich damit
vollgesogen. Sie sah, daß Mary herunterschaute, verzog das
Gesicht, streckte zu Krallen geformte Hände aus und versuchte, zu sprinten, um Mary zu schnappen. Sie konnte es
nicht.
Mary dagegen stellte fest, daß sie doch laufen konnte.
Hauptsächlich lag es an dem Ausdruck in Ellen Carvers
Augen. Nichts Menschliches war darin. Überhaupt nichts.
Sie erreichte den Rand der Grube, und nun machte die Luft
bei jedem Atemzug ein leises Pfeifgeräusch in ihrem Hals. Die
Straße verlief dreißig Meter eben auf der Kuppe, dann führte
sie bergab. Sie konnte einen winzigen gelben Funken in der
Schwärze des Wüstenbodens erkennen, der an- und ausging:
die Ampel in der Stadtmitte.
Mary richtete den Blick fest darauf und lief ein wenig
schneller.
4
»Was hast du vor, David?« fragte Ralph gepreßt. Nach einer
kurzen Periode der Konzentration, wahrscheinlich für ein
Gebet, ging David zur Hecktür des Ryder. Ralph hatte
sich instinktiv zwischen seinen Sohn und den Türgriff
gestellt. Steve sah es und hatte Verständnis für Ralphs Gefühle, glaubte aber nicht, daß es viel nützen würde. Wenn
David beschlossen hatte, zu gehen, dann würde David gehen.
Der Junge hielt die Brieftasche hoch. »Ich bringe das zurück.«
»Auf gar keinen Fall«, sagte Ralph und schüttelte heftig den
Kopf. »Auf gar keinen Fall. Um Gottes willen, David, du
weißt nicht mal, wo der Mann steckt - wahrscheinlich hat er
die Stadt inzwischen schon verlassen, schätze ich. Und ich
weine ihm keine Träne hinterher.«
»Ich weiß, wo er ist«, sagte David ruhig. »Ich kann ihn finden. Er ist nicht weit weg.« Er zögerte, dann fügte er hinzu:
»Ich soll ihn finden.«
»David?« Steve fand, daß sich seine eigene Stimme zaghaft
und seltsam jugendlich anhörte. »Du hast gesagt, die Kette sei
zerbrochen.«
»Das war, bevor ich das Bild in der Brieftasche gesehen habe. Ich muß zu ihm. Es ist unsere einzige Chance.«
»Ich verstehe nicht«, sagte Ralph, machte aber den Weg frei.
»Was bedeutet dieses Bild?«
»Ich habe keine Zeit, Dad. Und selbst wenn, bin ich nicht
sicher, ob ich es erklären könnte.«
»Kommen wir mit dir?« fragte Cynthia. »Wahrscheinlich
nicht, oder?«
David schüttelte den Kopf. »Ich komme zurück, wenn
ich
kann. Mit Johnny, wenn ich kann.«
»Das ist Wahnsinn«, sagte sein Vater, aber er sagte es mit
hohler, kraftloser Stimme. »Wenn du da draußen herumläufst,
wirst du bei lebendigem Leib aufgefressen.«
»Genausowenig wie mich der Kojote aufgefressen hat,
als ich aus der Zelle geflohen bin«, sagte David. »Gefährlich
ist es nicht, wenn ich da rausgehe, sondern wenn ich hierbleibe.«
Er sah Steve an, dann die Hecktür des Ryder. Steve ruckte
und schob die Tür auf. Die Wüstennacht drängte herein und
preßte sich wie ein kalter Kuß auf sein Gesicht.
David ging zu seinem Vater und umarmte ihn. Als Ralph
die Arme um seinen Sohn schloß, spürte David, wie er wieder
von dieser enormen Kraft erfaßt wurde. Sie floß durch ihn
hindurch
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