Desperation
Ma’am.
Er bremste kurz ab, als sie an einem Schild mit der Aufschrift DESPERATION vorbeikamen, dann bog er rechts ab
und beschleunigte. Ralph klammerte sich fest, als hinge sein
Leben davon ab, und hoffte, daß der Bursche wußte, was er
tat, damit sie sich nicht überschlugen. Das Auto schien die
Bodenhaftung zu verlieren, setzte aber wieder auf. Sie fuhren
jetzt nach Süden. Am Horizont ragte vor dem Himmel ein riesiges Bollwerk aus Erde auf, dessen braune Flanke von
Schneisen und zickzackförmigen Gräben durchzogen wurde
wie von schwarzen Narben.
»Was ist er dann?« fragte Ellie. »Was für ein Kerl ist das?
Und wie ist er an das Ding rangekommen, das Sie bei Rasern
einsetzen? Wie heißt es noch gleich?«
»Highway-Teppich, Mom«, sagte David. Er strich mit
einem Finger über das Metallgitter zwischen Vorder- und
Rücksitz, und sein Gesicht sah konzentriert und nachdenklich
und besorgt aus. Nicht mal der Anflug eines Lächelns war
jetzt zu sehen.
»Highway-Teppich, richtig. Wie ist er da drangekommen?«
»Genauso, wie er an die Waffen, die er bei sich hat, und an das
Auto gekommen ist, das er fährt«, sagte der Mann am Steuer. Sie
fuhren am Rattlesnake-Campingplatz und dann am Hauptquartier der Bergwerk AG Desperation vorbei. Vor ihnen lag
eine Gruppe Geschäftsgebäude. Eine Ampel blinkte gelb unter
hunderttausend Meilen jeansblauem Wüstenhimmel. »Er ist ein
Cop. Und eins kann ich Ihnen sagen, Carvers, wenn man es mit
einem irren Cop zu tun hat, dann ist die Lage ernst.«
»Woher kennen Sie unseren Namen?« fragte David. »Sie
wollten den Führerschein meines Dad nicht sehen, also woher
kennen Sie unseren Namen?«
»Ich hab ihn gesehen, als dein Dad die Tür aufgemacht
hat«, sagte der Cop und sah in den Rückspiegel. »Die kleine
Plakette über dem Tisch. GOTT SCHÜTZE UNSER FAHRBARES HEIM. DIE CARVERS. Hübsch.«
Etwas daran machte Ralph zu schaffen, aber vorerst ließ er
es dabei bewenden. Seine Angst war nicht vergangen, mußte
er feststellen; sie hatte sich zu einer Vorahnung ausgewachsen, die so stark und dabei so diffus war, daß es Ralph vorkam, als hätte er etwas Vergiftetes gegessen. Er dachte, wenn
er die Hand hochheben würde, würde sie nicht zittern, aber
das änderte nichts an der Tatsache, daß er mehr Angst hatte,
nicht weniger, seit der Cop sie so unheimlich leicht von ihrem
lahmgelegten fahrbaren Heim weggelockt hatte. Offenbar
war es nicht die Art von Angst, bei der einem die Hände zitterten (es ist eine trockene Angst, dachte er mit einem winzigen, und nicht eben typischen Anflug von Humor), aber dennoch ließ sie sich nicht leugnen.
»Ein Cop«, überlegte Ralph und mußte an einen Film denken, den er eines Samstagabends vor gar nicht so langer Zeit in
der Videothek an der Ecke ausgeliehen hatte. Maniac Cop hatte
er geheißen. Der Werbeslogan über dem Titel lautete: SIE HABEN DAS RECHT ZU SCHWEIGEN. FÜR IMMER. Komisch,
wie einem so albernes Zeug manchmal nicht aus dem Kopf
ging. Aber jetzt kam es ihm ganz und gar nicht komisch vor.
»Ganz recht, ein Cop«, antwortete ihr Cop. Es hörte sich an,
als würde er lächeln.
Tatsächlich? dachte Ralph. Und wie genau hört sich ein Lächeln
an?
Er merkte, daß Ellie ihn von nervöser Neugier erfüllt ansah,
doch schien ihm nicht der richtige Zeitpunkt zu sein, ihren
Blick zu erwidern. Er wußte nicht, was sie in den Augen des
anderen lesen würden, und war nicht sicher, ob er es herausfinden wollte.
Aber der Cop hatte gelächelt. Irgendwie war er da ganz sicher. Warum sollte er? Was ist so komisch an einem wildgewordenen
State Trooper, an sechs platten Reifen oder einer vierköpfigen
Familie, die sich in ein heißes Polizeiauto ohne Türgriffe zwängen
mußte,oder daran, daß die Lieblingspuppe meiner Tochter sechs
Meilen hinter uns mit dem Gesicht nach unten im Dreck liegt? Wie
konnte irgend etwas davon komisch sein?
Er wußte es nicht. Aber der Cop hatte sich angehört, als
würde er lächeln.
»Ein State Trooper haben Sie gesagt?« fragte Ralph, als sie
unter der blinkenden Ampel hindurch fuhren.
»Sieh mal, Mommy!« sagte Kirsten strahlend und schien Melissa Sweetheart zumindest vorübergehend vergessen zu haben. »Fahrräder! Fahrräder auf der Straße, und sie stehen auf
dem Kopf! Siehst du sie, da hinten? Ist das nicht komisch?«
»Ja, Liebes, ich sehe sie«, sagte Ellie. Sie hörte sich nicht an,
als würde sie die verkehrt herum auf der Straße abgestellten
Fahrräder auch nur annähernd so erheiternd finden wie
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