Desperation
Handgelenk.
David dachte: Das sind die Maschinen, die ihn am Leben halten.
Und wenn sie die abschalten, wenn sie die Nadeln rausziehen Er konnte diese Gedanken, Knospen des Staunens, bei denen es sich nur um dichtgerollten Kummer handelte, nicht
fassen. Er und Brian bespritzten sich in der Schule jedesmal,
wenn sie sich unbemerkt wähnten, mit Wasser aus der Trinkfontäne vor ihrem Klassenzimmer. Sie fuhren mit den Rädern
in die legendären Bear Street Woods und taten so, als wären
sie Stoßtrupps. Sie tauschten Bücher und Comics und Baseballkarten und saßen manchmal nur auf Davids Veranda,
spielten mit Brians Gameboy oder lasen und tranken Limonade, die Davids Mom gemacht hatte. Sie schlugen mit den
offenen Handflächen gegeneinander und nannten sich »böser
Bube«. (Manchmal, wenn sie unter sich waren, beschimpften
sie sich auch als »Arschgesicht« oder »Pißkopf«.) In der zweiten Klasse hatten sie sic h mit Stecknadeln in die Finger
gepiekst, die Finger zusammengedrückt und sich Blutsbrüderschaft geschworen. Im August dieses Jahres hatten sie, mit
Hilfe von Mark ROSS , aus Kronkorken nach einer Abbildung
in einem Buch einen Parthenon gebaut. Er war so gut gelungen, daß Mark ihn unten im Keller behielt und Freunden
zeigte. Am ersten des nächsten Jahres hätte der KronkorkenParthenon die anderthalb Blocks lange Reise zum Haus der
Carvers antreten sollen.
Auf diesen Parthenon hatte sich Davids Denken am stärksten konzentriert, als er am Bett seines komatösen Freundes
stand. Sie - er, Brian, Brians Dad - hatten den Tempel in der
Garage der Familie ROSS gebaut, während aus dem Kassettenrecorder auf dem Regal hinter ihnen ununterbrochen Rattle
and Hum ertönte. Er war albern, weil er nur aus Kronkorken
bestand, und er war cool, weil er aussah, wie er aussehen
sollte, man konnte erkennen, was es war. Und er war cool,
weil sie ihn mit ihren eigenen Händen gemacht hatten. Nicht
mehr lange, dann würden Brians Hände von einem Bestattungsunternehmer genommen und geschrubbt werden, der
eine spezielle Bürste nehmen und den Fingernägeln besondere Aufmerksamkeit widmen würde. David vermutete,
daß niemand einen Leichnam mit schmutzigen Fingernägeln
sehen wollte. Und wenn Brians Hände sauber waren und er in
dem Sarg lag, den seine Eltern für ihn aussuchen würden,
würde der Bestattungsunternehmer Brians Finger ineinander
verflechten wie zwei Turnschuhe. Und so würden sie unten in
der Erde bleiben. Ordentlich gefaltet, wie sie die Hände im
zweiten Schuljahr auf den Pulten gefaltet haben sollten. Diese
Hände würden keine Gebäude aus Kronkorken mehr machen. Die Finger würden kein Wasser mehr aus der Trinkfontäne spritzen. Hinab in die Dunkelheit mit ihnen.
Dieser Gedanke rief in seinem Verstand und seinem Herzen
nicht Schrecken hervor, sondern Verzweiflung, als würde das
Bild von Brians verschränkten Fingern in seinem Sarg den Beweis dafür antreten, daß nichts irgendwas wert war, daß keine
Tat auf der Welt jemals den Tod aufhielt, daß nicht einmal
Kinder von der Horrorshow ausgenommen waren, die unablässig hinter der Pfefferminzfassade von Fernsehkomödien
ablief, an die deine Eltern glaubten und die sie dich selbst
glauben machen wollten.
Weder Mr. noch Mrs. ROSS sagte etwas zu ihm, während er
am Bett stand und in der Rindern eigenen sprunghaften Art
über das alles meditierte. Und ihr Schweigen paßte David gut
in den Kram; er hatte sie gerne, besonders Mr. ROSS , der eine
interessante irre Ader in sich hatte, aber er war nicht hergekommen, um sie zu besuchen. Sie waren nicht diejenigen mit
den IV-Schläuchen und der Beatmungsmaschine, die weggenommen werden würden, wenn die Großeltern die Möglichkeit gehabt hatten, sich zu verabschieden.
Er war gekommen, um Brian zu sehen.
David hatte die Hand seines Freundes genommen. Sie lag
erstaunlich kalt und schlaff in seiner eigenen, aber trotzdem
lebendig. Man konnte das Leben darin spüren, das wie ein
Motor lief. Er drückte sie sanft und flüsterte: »Wie geht’s dir,
böser Bube?«
Natürlich bekam er keine Antwort. Nur das Geräusch der
Maschine, die für Brian atmete, nachdem in seinem Gehirn
fast alle Sicherungen durchgebrannt waren. Diese Maschine
stand am Kopfende des Betts, und sie war die größte. An einer
Seite war eine Röhre aus durchsichtigem Plexiglas befestigt.
In dieser Röhre befand sich etwas, das wie ein weißes Akkordeon aussah. Das Geräusch der Maschine war leise alle Maschinen waren leise
-, aber das Akkordeon-Ding war
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