Deutschboden
Aber es lief auch schnelle Rockmusik mit deutschen Texten, und ein Fahrer, der die graue Uniform eines Bundeswehrsoldaten trug, war – irre Erscheinung – mit der quer durch die Kleinstadt schreienden Musik des Sechziger-Jahre-Kinderstars Heintje unterwegs. Das kontrollierte Langsamfahren, das verstand ich gerade, war besser, schöner, spannender als das Schnellfahren. Im Langsamfahren, im Schleichen lag die Möglichkeit, aufs Gaspedal zu treten und, aus dem Stand kommend, einen Kickstart hinzulegen. Wer dagegen schon Vollgas fuhr, konnte nur noch bremsen, hatte das Beste, den Kickstart, schon hinter sich.
Einige Autos klangen wie Hafenschlepper. Die Heckscheiben-Beschriftung Creed. (Man hätte ein ganzes Buch über Heckscheiben-Beschriftung schreiben können.) Die Opelgang Germany e. V. war auch schon da. Das klassische Oberhaveler Cruiser Kid glitt betont langsam die Straße hinunter, tief hinten im Sitz liegend, den Ellbogen ins offene Fenster gelegt, den gestreckten Arm auf dem Lenkrad, jederzeit bereit, zu explodieren. Das war die klassische Cruiser-Haltung aus dem Zeitalter von Gene Vincent und James Dean. Da kam ein giftgrün gespritzter Wagen mit eingebautem Überrollkäfig. Jetzt hätte man sich wieder mal gerne mit Autos ausgekannt. Ich las: Ford Focus RS.
Ich musste nun schnell mal raus aus dem Konzert der bumsenden Autos: runter zum Fluss. Fluss, wie gesagt: immer gut. Am Fluss war ja offensichtlich auch gut, dass er nicht hier bleiben, sondern rausfließen wollte aus der Kleinstadt, Richtung Berlin. Der Weg führte am Wasser entlang, am anderen Ufer reichte das Grün in langen Wellen bis an den Fluss heran. Hinten tauchte ein Sportplatz auf.
Ein Schwan.
Grün.
Blau. Es gab das Blau, das im Fluss dahinfloss, und das Blau oben, an dem die weißen Wolkenfetzen jetzt irre schnell dahinzogen. Gut vier Fünftel aller Blicke sahen jetzt nur Himmel.
Die beste Zeit für den Fluss war offensichtlich jetzt, gegen fünf Uhr nachmittags, wenn Hektik und Tamtam des Tages sich schon ein wenig gelegt hatten, aber der Abend sich noch nicht richtig herantraute. Das sahen wohl auch die Vögel so, die jetzt ganz doll umherflattern, schreien und kreischen und dolle Sturzmanöver fliegen mussten. Die Dunkelheit lag noch einige Stunden weit entfernt.
Es waren die Wochen der warmen Winde, der schnell ziehenden Wolken und der plötzlich herunterbrechenden Regengüsse. Und erst jetzt, auf dem Weg am Fluss, sah ich in voller Breite, was für ein irre schönes Frühsommerwetter in diesen an irren schönen Frühsommern nicht armen Nullerjahren das schon wieder war: 25 Grad, irre Lüfte, irre Frische, eine irre Bewegung am Firmament,
die Kräfte des Lebensbejahenden und Frohen schienen von ganz weit oben, wirklich aus dem Weltall oben, zu uns herunterzustoßen. Ein Stimmung, wie es sie früher im September gegeben hatte, bloß alles eben doch ganz anders: Man spürte auch, dass es noch früh im Jahr war, Anfang Mai, nicht Anfang September. Der lange, heiße Sommer lag vor uns.
Auf den Bänken vor der Brücke saßen sechs Mädchen, keine über 16, unter ihnen zwei Jungs. Schubsen, Hauen, Stoßen, Zurückschubsen, Aua-Schreie, Kicher- und Kreischanfälle. Zwischen den Mädchen saßen ein normal kräftiger Junge und ein anderer Junge, still, die Hände in den Schoß gefaltet, mit langen, dünnen Armen, langen, dünnen Beinen, der sogenannten Bill-Kaulitz-Frisur (schwarz-weiß toupierte Haare) und einem zu großen, weißen Jackett. Er bekam die Knuffereien seiner Freunde ab – saß da, so wunderbar verquer, verunglückt, grandios windschief in die Welt hineingehängt, wie das nur Heranwachsende fertigbringen. Das ganze Drama einer Kleinstadtjugend lief da in Sekundenschnelle im Vorbeigehen vor dem Reporter ab. Eins der Mädchen stand auf und kreischte zum Wasser hinunter: »Pissen sollt ihr, nicht ficken!« Schweigende Bill-Kaulitz-Beauty.
Wieder oben in der Stadt kam eine neue Welle der Ratlosigkeit und Hilflosigkeit in mir hoch, und es stellten sich die naheliegenden Fragen: Weshalb diese Kleinstadt? Was war das für ein geisteskranker Einfall gewesen, sich gegen die Großstadt und für dieses miese Stinkenest hier zu entscheiden?
Punkt 18 Uhr. Die Kleiderläden Jeans Line und Ernsting’s Family räumten ihre Kleiderständer von der Straße. An der Eiche standen etwa zwanzig sehr jung aussehende Menschen, in den Zeitungen würden sie sagen: Kids. Wieder leichte Mädchenüberzahl. Pullover,
Weitere Kostenlose Bücher