Dezembergeheimnis
entschuldigte sie das damit, dass es keine Option war, ihn alleine in der Wohnung zu lassen – doch innerlich wusste sie, dass sie einfach viel zu gespannt darauf war, wie er auf den ganzen Feuerwerkhokuspokus reagieren würde.
Sally würde sicher ein Problem bleiben. Lea schielte erneut zu dem Bücherstapel, auf dem ganz oben ein Gedichtband von Austin Clarke ruhte. Warum hatte sie nicht einfach eine Sekunde länger nachdenken können? Sie konnte nur beten, dass es keinen echten Noel Clarke gab – und wenn doch, dass er der anständigste Mann unter Gottes Himmelsgestirn war.
Sie seufzte. Sollte das alles mit der großen Liebe nicht wesentlich unkomplizierter sein?
Als sie um vier Uhr ihre Sachen schnappte und in ihre Rostlaube stieg, war ihr ganz mulmig zumute. Die Problematik mit dem Wohnzimmer hatte sie ja im Eifer des frischen Dramas beinahe wieder vergessen. Doch wie immer saß Noel ganz friedlich auf dem Sofa und las. Sobald sie den Raum betrat, fühlte sie sich dumm, sich überhaupt jemals Sorgen gemacht zu haben. Selbst wenn er etwas Peinliches gefunden hätte, würde er es ihr nie unter die Nase reiben. Dafür war er einfach zu perfekt.
»Hallo.« Er lächelte glücklich, als er sie im Türrahmen entdeckte. Lea lächelte verlegen zurück und setzte sich zu ihm auf die Couch, wo er wiederfür sie Platz machte.
»Verzeih mir, ich habe dich gar nicht gehört … Ich war zu sehr in deinem Lieblingsbuch versunken.«
»Mein Lieblingsbuch?«, fragte sie verwirrt. Sie konnte sich nicht daran erinnern, es ihm gegenüber erwähnt zu haben.
»Ist es das nicht?« Er zeigte ihr das Cover des Romans, den er in der Hand hielt. Es war völlig verschlissen und im ersten Moment war sie sich sicher, dass ihm da ein Fehler unterlaufen sein musste – ihre Ausgabe war schließlich in einem ausgezeichneten, quasi nie angerührten Zustand. Doch auf der Front, die zusätzlich mit einem entsetzlichen Eselsohr geschmückt war, stand in verschnörkelten, aber deutlichen Lettern
Sara, die kleine Prinzessin
.
Erschrocken hielt sie den Atem an, als sie es wiedererkannte.
»Woher hast du das?«, hauchte sie und streckte vorsichtig die Finger danach aus.
»Tut mir leid, durfte ich das nicht sehen? Es lag in einer kleinen Kiste, ganz unten im Bücherregal.« Seine Stimme wurde ganz leise und er drückte ihr das Werk in die Hand. Lea sah zu ihm auf, während er sie besorgt musterte. »Verzeih mir, ich hätte da nicht reinsehen dürfen.«
Ganz behutsam ließ Lea die Finger über die abgewetzten Seiten wandern und überging seine Worte geflissentlich.
»Es ist nicht schlimm, wirklich nicht. Es ist nur … « Sie stockte, hob den Kopf und lächelte ihn an. »Das war meine erste Ausgabe … Ich hab die ganze Zeit gedacht, ich hätte sie verloren. Und dabei war sie direkt vor meiner Nase … «
Schmunzelnd schüttelte sie den Kopf. Er hatte es so einfach gefunden. Er war wirklich ein kleines Wunder.
»Du bist also nicht böse?«, hakte er vorsichtig nach.
»Nein, natürlich nicht«, versicherte sie ihm freudestrahlend und griff in einem Impuls nach seiner Hand. Seine Züge entspannten sich und er strich ihr mit dem Daumen über den Handrücken. Rasch entzog sie ihm die Finger mit roten Wangen wieder und hielt ihm stattdessen als Tarnung das Buch entgegen. Erstaunt sah er auf den Einband, lächelte sie jedoch schief an. Er schien sich darüber ehrlich zu freuen.
»Woher wusstest du, dass das mein Lieblingsbuch ist?« Sie lehnte sich in die Kissen zurück, nicht zuletzt, um wieder ein wenig körperlichen Abstand zu gewinnen.
»Das war recht einfach.« Er zuckte mit den Schultern. »All deine anderen Bücher wirkten so neu, als hättest du nicht eine Seite aufgeschlagen. Aber das hier … «, er betrachtete den Roman in seinem Schoß schon fast liebevoll, bevor er fortfuhr, »das hier ist voll von Knicken und kleinen Notizen. Du besitzt es nochmal, aber da ist es genau wie die anderen: unberührt.«
Seine Miene wurde nachdenklich.
»Ist es vielleicht gar nicht mehr dein Lieblingsbuch?«
»Doch … «, gestand sie zögerlich. Irgendwie freute sie sich, dass er diese Seite unbewusst an ihr entdeckt hatte; doch gleichzeitig erschrak sie auch ein wenig darüber, dass sie sich doch so verändert hatte. Einerseits hatte sie zwar einen Wunschzettel geschrieben, aber andererseits war sie offensichtlich genug aus ihrer Idealwelt aufgetaucht, um an Märchen wie das der kleinen Sara oder ein Wunder wie Noel nicht einfach
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