Die 13 1/2 Leben des Käptn Blaubär
ließ meinen Blick über das verwirrende Schattengeflecht des Dominnern schweifen. Dunkelheit zuckte über die Wände wie schwarze Flammen. Irgendetwas fauchte.
»Hier sind irgendwelche Tiere«, flüsterte ich.
»Pff ... ein paar Ratten vielleicht! Leg dich wieder hin, ga?« versuchte Chemluth mich zu beschwichtigen.
Es knackte im Gebälk des Doms, und ich stand für einen Augenblick in einem kurzen Schauer aus abblätterndem Freskenputz. Winzige Teilchen von uralten Bildern regneten auf mich nieder, ich erkannte im Mondlicht meisterlich gemaltes Blattwerk, Teile von Händen, Äpfeln, Engelsflügeln und Augen. Dann schlug eine kleine Glocke, kurz und dumpf, als sei ein großer Vogel gegen sie geflogen.
Ihr Ton legte sich schwer auf mein Herz.
Es wurde still.
Chemluth richtete sich langsam auf und sah mit großen Augen an mir vorbei. Er zeigte auf etwas, das hinter mir war. »Ga!« sagte er.
Ich vernahm gerade noch das Flattern von schweren Flügeln, dann traf mich etwas Hartes, Scharfes am Kopf und verschwand fauchend wieder im Dunkel. Eine warme Flüssigkeit lief meinen Nacken herab, und ich befürchtete, daß irgendein ekelhaftes Wesen, wahrscheinlich eine Kakertratte, ihre unsägliche Körperflüssigkeit auf mich abgesondert hatte, aber dann griff ich mir in den Nacken, in etwas Warmes, Klebriges. Im Mondlicht sah es pechschwarz aus, aber ich wußte, es war mein eigenes Blut. Es gehören schon sehr scharfe Krallen dazu, einen Blaubär zum Bluten zu bringen. »Blut??« fragte ich.
»Vampiros!« antwortete Chemluth.
Dann kam die erste Angriffswelle.
Fauchend schoß ein schwarzer Blitz aus dem tiefsten Dunkel des Doms auf mich zu: eine muskulöse Katze von der Größe einer ausgewachsenen Dogge und mit dem Gesicht eines wütenden Pavians, die ihren Lauf noch beschleunigte, indem sie mit den kurzen Flügeln schlug, die an ihren Schultern wuchsen.
Kurz bevor sie mich erreichte, geschah etwas Merkwürdiges: Das ganze Ereignis schien plötzlich in Zeitlupe abzulaufen, und eine tiefe innere Ruhe breitete sich in mir aus. Für den letzten Meter, der zwischen uns lag, brauchte die Katze (der Affe? die Fledermaus?) unendlich lange, ich hatte genügend Zeit, ihren Muskeltonus zu studieren, meine Schlußfolgerungen daraus zu ziehen und ihren Angriffswinkel zu berechnen, einen leichten Ausfallschritt nach vorn zu machen und gleichzeitig meinen Oberkörper weit zurückzulehnen, was dazu führte, daß mein Angreifer über mich hinweg ins Leere sprang.
Ich konnte in allen Einzelheiten die verdutzte Grimasse der Affenkatze sehen, als sie dicht über mich hinwegsegelte, ich hatte sogar Gelegenheit, langsam und machtvoll auszuholen und ihr einen genau plazierten Prankenhieb unter den Brustkorb zu verpassen, der sie aus ihrer Bahn katapultierte und meterweit durch die Luft segeln ließ, bis sie mit dem Rückgrat auf den harten Marmorboden knallte und jaulend vor Schmerz durch die Gegend sprang wie eine gesprungene Metallfeder.
»Ga! Das war schnell!« sagte Chemluth respektvoll.
Was mir so unendlich langsam vorgekommen war, hatte sich tatsächlich innerhalb einer halben Sekunde abgespielt. Es wurde mir erst später bewußt: Dies war das Erwachen meiner natürlichen Raubtierinstinkte. Schließlich war ich ein Bär. Dank meiner bisherigen Erziehung hatten diese Instinkte geschlummert, aber jetzt hatte jemand den Fehler gemacht, mich anzugreifen und die Verteidigungsmechanismen des wilden Urbaren in mir zu wecken. Ich warf den Kopf in den Nacken und ließ ein markerschütterndes Brüllen durch den Dom donnern, das vom Echo vielfach zurückgegeben wurde.
Zwei Vampirkatzen sprangen gleichzeitig auf mich zu. Ich duckte mich weg, um eine davon gegen einen hinter mir stehenden Säulenstumpf prallen zu lassen, während ich die andere aus der Luft pflückte, indem ich sie beim Hinterlauf packte. Wie ein Hammerwerfer wirbelte ich sie dreimal um meine eigene Achse und schleuderte sie dahin zurück, wo sie hergekommen war. Dabei muß sie einige ihre Artgenossen getroffen haben, denn es gab ein schmerzerfülltes und wütendes Gefauche, als sie aufprallte.
Dann war Ruhe.
»Hoo!« rief Chemluth. »Das war's, ga, die kommen nicht wieder! Vampire sind feige!«
Er spuckte verächtlich auf den Boden und versuchte mir anerkennend auf die Schulter zu klopfen, erreichte aber wegen unseres Größenunterschiedes nur meinen Ellenbogen.
In diesem Augenblick sprangen etwa fünfzehn Vampirkatzen aus allen Richtungen auf uns zu, während fünf
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