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Die 33 tollsten Ängste ...: ... und wie man sie bekommt (German Edition)

Die 33 tollsten Ängste ...: ... und wie man sie bekommt (German Edition)

Titel: Die 33 tollsten Ängste ...: ... und wie man sie bekommt (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lutz von Rosenberg Lipinsky
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aber transportiert sie damit auch die Angst: Ohne dich sterbe ich! Dieses latente Schuldgefühl wird kein Kind ertragen.
    Mütter betrachten den Nachwuchs gerne als eine Art freiwillig getragene Fußfessel: Jede räumliche Trennung löst Schmerzalarm aus. So ist nichts schlimmer für eine Mutter, als zu wissen, ihr Kind wird ein sogenannter Fahrschüler.
»Fahrschüler« heißt natürlich nicht, dass das Kind bereits im Alter von sechs Jahren seinen Führerschein macht. »Fahrschüler« ist ein insbesondere in Kleinstädten verbreiteter total abfälliger Ausdruck, eine beleidigende Beschreibung jener Kinder, die nicht mit dem Fahrrad oder zu Fuß zur Schule kommen können, sondern mit dem Bus geholt werden müssen. Als wären sie behindert. Oder, wie man es heutzutage politisch korrekt formuliert: »benachteiligt«. Dieser Ausdruck beschreibt den Zustand allerdings auch besser: Benachteiligt sind Fahrschüler definitiv. Es handelt sich nämlich meistens um die Kinder von Landwirten oder Ökomuttis, die, fernab von jeder Infrastruktur, in mehr oder weniger ausgebauten Bauernhäusern auf mehr oder weniger bewirtschafteten Höfen wohnen. Oder besser: hausen. Auf dem Land wird eher gehaust als gewohnt. Als Jugendlicher trifft man sich hier meistens abends an der Bushaltestelle.
Dort stehen diese »Fahrschüler« auch morgens, irgendwo im Nebel, im Nichts. Und warten darauf, dass man sie abholt. Sie befinden sich noch vor Tagesanbruch an einsamen, feuchten, kalten, dunklen Orten, an denen sonst niemals jemand anhalten würde, aus Angst, dass man ihn überfällt, vergewaltigt und vierteilt. Und nach dem Unterricht, wenn alle anderen Kinder bereits wieder in den wohligen Schoß der Familie zurückgekehrt sind und Mutters Schnitzel genießen, sitzen »Fahrschüler« immer noch in der Schule in irgendwelchen Warteräumen und glotzen durch verdreckte Fensterscheiben – in der stillen Hoffnung, dass sie jemand holt.
    Als »Fahrschüler« ist ihr Kind, so der Albtraum aller Mütter, stets und ständig allein unterwegs und permanent in Gefahr – fern der Heimat potentiellen Gewalttätern, der Willkür des örtlichen Nahverkehrs und dem Kalorienterror amerikanischer Schnellrestaurants hilflos ausgeliefert.
    Viele Mütter ertragen das nicht. Meine Eltern beispielsweise wollten ihren Kindern dieses Schicksal unbedingt ersparen und sind extra aus einem hübschen Häuschen in den Hügeln in die kleine Stadtwohnung gezogen. Vergeblich. Die Angst wurde nur größer …
    Doch der Reihe nach: Mein Jahrgang war der letzte geburtenstarke: 1965. Danach ging es bergab mit den Zeugungsraten. Ein tolles Gefühl: Man kommt auf die Welt und schlagartig verlieren alle die Lust. Und sagen: »So, damit soll es dann auch genug gewesen sein.« Die Grundschulen meiner heimatlichen Kleinstadt aber waren wegen dieser Kinderschwemme zu der Zeit extrem überlastet, die Kapazitäten der dort tätigen Pädagogen erschöpft. So wurde die Einschulung der 65er zu einem besonderen Ereignis.
Der erste Schultag ist ohnehin nicht von schlechten Eltern; gerade der des Jüngsten, des Lieblings, des Nesthäkchens macht garantiert niemandem nie und nirgends wirklich Freude. Es ist hart, besonders für eine Mutter, auch das jüngste Kind der brutalen Obhut von Vater Staat übergeben zu müssen, gewissermaßen von Amts wegen zum Loslassen gezwungen zu werden. An diesem Tag biegen auch die Elternteile in die Zielgerade ein. Danach geht es für sie nämlich bergab. Bald werden sie nur noch zu zweit sein – und in Schussfahrt aufeinander zurasen.
Für das Kind ist es allerdings kein gutes Signal, wenn die Eltern in so einer Situation heulen. »Der Junge, jetzt ist er schon so groß …!« Normalerweise ist man dann ca. einmeterzwölf! Soll man etwa aufhören zu wachsen?
    Alle trafen sich vor der Grundschule. Alle Kinder. Viele Kinder. Zu viele! Die Klassen wurden zusammengestellt. Schnell wurde klar – es waren sechs. Die Grundschule aber bot nur Platz für vier. So musste meine Mutter plötzlich mit ansehen, wie wir überzähligen Kinder in einen Bus verfrachtet wurden. Was war das? War ihr Sohn jetzt etwa doch Fahrschüler? Vor allem wusste scheinbar keiner, wohin die Reise gehen sollte. Panik pur! Busse ins Nichts haben in Deutschland schließlich eine schlechte Tradition. Und die Rede ist hier nicht von Auswärtsfahrten nach Cottbus.
    Da kamen schlimme Ängste hoch, der Trip mutierte zum Horror. Einer übertraf den anderen mit Schreckensvisionen: Vielleicht würden

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