Die Abenteuer des starken Wanja
Die Grillen zirpten im hohen Gras, in den Wäldern am Wege
schlugen die Nachtigallen.
Und
dann ging der Mond auf. Ein großer, runder, honigfarbener Frühjahrsmond.
Da
geschah etwas Wunderbares.
Als
die Mondstrahlen sie berührten, verwandelte sich die Rüstung des Zaren Iwan
Wassiljewitsch. Auf einmal begann sie zu schimmern, zu glänzen, zu leuchten.
Das rostige Eisen wurde zu Silber und Gold; und der Helm und das Bruststück des
Panzers waren mit Perlen und Edelsteinen besetzt, die gleißten und strahlten in
unbeschreiblicher Pracht und Herrlichkeit.
Aber
es dauerte eine ganze Weile, bis Wanja begriff, daß das Glänzen und Leuchten
von seiner Rüstung ausging.
Drittes Buch
J enseits der Weißen Berge herrschte ein alter und
weiser Zar. Sein Schloß stand auf einem Hügel über der Zarenstadt. Mauern und
Türme waren aus roten Quadersteinen gefügt, die Tore mit Eisen beschlagen, die
Dächer und Kuppeln mit Kupferplatten gedeckt. Tatarische Bogenschützen
bewachten die Zugänge: flinke, ledergesichtige Burschen mit schrägen Augen und
kahlgeschorenen Köpfen.
Der
Zar verbrachte sein Leben in einem stillen, abgeschiedenen Trakt des Schlosses.
Seit vielen Jahren hatte er sein Gemach nicht verlassen, denn er war blind und
krank. Die Krankheit war von der Art, daß er weder leben noch sterben konnte.
Sein einziges Kind, Wassilissa Zarentochter mit Namen, pflegte ihn. Niemand
sonst, kein Diener und kein Bojar, keine Magd und kein Fräulein von Adel,
durfte dem Zaren in seiner Krankheit beistehen, auch kein Arzt und kein
Kräuterweib.
Die
Zarentochter war über alle Maßen schön von Gestalt und Angesicht. Vor ihr
beugten sich Laub und Gras, die Vögel verstummten bei ihrem Anblick, der Wind
hielt den Atem an, und die Sonne am Himmel verneigte sich jeden Morgen dreimal
vor ihrem Fenster — so schön war sie.
Nie
hatte Wassilissa den kranken Zaren während der langen Jahre mürrisch gesehen
und nie verzweifelt, geduldig ertrug er sein Los. An manchen Tagen erhob er
sich mühsam vom Lager und ließ sich von Wassilissa zum Lehnstuhl führen, der
unweit des Fensters stand — so auch heute. Sie half ihm, sich in den Kissen des
Stuhles zurechtzusetzen; und nachdem sie ihm eine wollene Decke über die Knie
gebreitet hatte, bat er sie:
»Geh
nun wieder ans Fenster und halte Ausschau, mein gutes Kind !« Darum bat sie der Kranke immer, wenn er im Lehnstuhl saß; und immer hatte ihm
Wassilissa die Bitte erfüllt. Gehorsam war sie ans Fenster getreten und hatte
hinausgeblickt. Heute tat sie es nicht. Ohne sich einen Schritt von der Stelle
zu rühren, sagte sie:
»Vergib
mir, Vater — aber ich fürchte, wir warten umsonst auf ihn .«
»Das,
meine Tochter, kann ich dir nicht verargen«, sagte der Kranke. »Dennoch zweifle
ich nicht daran, daß er kommen wird .«
Der
Zar ergriff Wassilissas Hand.
»Du
kennst meinen Traum, Wassilissa, ich habe ihn dir schon oft erzählt. Damals,
vor vielen Jahren, es war in der ersten Zeit meiner Krankheit, schritt ich im
Traum als Pilger durch einen Birkenwald. Ich war blind, und doch sah ich mit
meinen Augen alles vor mir. Ich schritt durch den Wald und fand einen
Bauernburschen im Gras liegen unter den Bäumen. Ich sprach mit ihm — Worte
sprach ich, an die ich mich nicht erinnern kann. Und doch weiß ich: Der junge
Mann aus dem Birkenwald hat sie nicht vergessen. Er wird kommen, um uns aus
aller Not zu erretten — das Land und uns .«
»Dazu
ist es wohl schon zu spät«, sagte Wassilissa.
Der
Zar widersprach ihr nicht; ruhig, als habe sie seinen Worten zugestimmt, fuhr
er fort:
»Du
weißt, daß ich später ein zweitesmal von dem jungen Mann geträumt habe. Jahre
danach war es. Wieder als Pilger gekleidet, kehrte ich auf dem Hof seines
Vaters ein, und wir führten ein langes Gespräch miteinander, der Bauer und ich,
hinter dem Haus bei den Bienenkörben. — Worüber wir sprachen, auch daran kann
ich mich nicht erinnern. Aber ich weiß, daß ich meinen Wanderstab in die Erde
stieß, ehe ich fortging, und daß ich es tun mußte, um Gefahr von uns allen
abzuwenden: auch von dem jungen Mann. Seither bin ich mit meinen Gedanken immer
bei ihm gewesen, Tag um Tag und in jeder der vielen Nächte, in denen ich
schlaflos lag. Du mußt daran glauben, mein Kind, daß er kommt — und daß er die
Rüstung des Zaren Iwan Wassiljewitsch tragen wird, wie es uns verheißen ist .«
Die
Zarentochter entzog ihm die Hand und trat ans Fenster.
»Ich
habe es dir bis heute verschwiegen,
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