Die Abrechnung: Ein Neonazi steigt aus
überraschte viele seiner nichtneonazistischen Gesprächspartner. Für Erich Fried zum Beispiel gründete sich die Faszination, die von Kühnen ausging, auf dessen »subjektive Ehrlichkeit«. Frieds Angebot von 1984, vor Gericht zugunsten Kühnens auszusagen, sorgte unter den Linken für heftigen Streit, aber Fried hielt ihm bei allen politischen Gegensätzen zugute, er sei »ein vorbildlicher Diskussionspartner« und von jeder »Verstocktheit und Unbelehrbarkeit« weit entfernt.
Nach dem Fall der Mauer erkannten ihn fast alle Neonazis in der DDR als ihren »Führer« an, die Tatsache seiner Homosexualität und daß er HIV-positiv war, wurden als »linke Propaganda« abgetan.
Wir waren begeistert von ihm. Seine Diskretion und Zurückhaltung machten ihn bei allen Bewohnern der Weitlingstraße beliebt. Auch ich unterhielt mich oft und gern mit ihm, verstand er es doch, mich durch seine Argumente zum Denken anzuregen. Sprach man länger mit ihm, merkte man, daß er nie richtige Freunde gehabt hatte. Immer sprach er von »Kameraden«, und manchmal hatte ich den Eindruck, daß er es richtig genoß, wenn er sich mit mir über persönliche Dinge unterhalten konnte. Nie habe ich jemanden getroffen, der einsamer war als Kühnen. Ich glaube, der Verlust von Zuneigung und Liebe seiner Eltern waren ein erster Schritt in diese unglaubliche Einsamkeit.
Kühnens politische Laufbahn begann während seiner Gymnasialzeit. Anfangs war er Maoist. Nach einer Vielzahl von Meinungsverschiedenheiten, sie betrafen insbesondere das »Völkische«, wandte er sich der NPD zu. Bald war ihm diese Partei jedoch »zu demokratisch«. Nach dem Abitur lernte Kühnen bei der Bundeswehr die »entscheidenden nationalsozialistisch gesinnten Leute« kennen. Wegen seiner »nationalen Grundhaltung« wurde er 1977 aus der Bundeswehr entlassen. Er gründete den »Freizeitverein Hansa«, der in der Folgezeit in Hamburg durch zahlreiche rechtsextremistische Aktivitäten in Erscheinung trat.
Im Frühjahr 1978 gründete Kühnen in Hamburg die »Aktionsfront Nationaler Sozialisten«, deren Absichten er so beschrieb: »Ziel unserer Organisation ist es, die Aufhebung des NSDAP-Verbotes in der BRD, die Werte des Dritten Reiches wiederherzustellen, ein Großdeutschland für alle Deutschen zu schaffen und sie gegen die Bedrohung zu einigen, die jetzt von den Kommunisten und den farbigen Rassen ausgeht. Wir haben Listen mit vielen Namen: Richter, Rechtsanwälte und verschiedene Kommunisten für den Tag X aufbewahrt.«
Einem englischen Journalisten präsentierte sich Kühnen im Frühjahr 1978 in schwarzen Schaftstiefeln und schwarzem Hemd, in einem mit Hakenkreuzen und Hitlerbildern dekorierten Raum. Damals behauptete er: »Wir haben unter den jungen Offizieren breite Unterstützung. Diese Leute geben sich absichtlich nicht zu erkennen.«
Anfang 1979 mußte sich Kühnen das erstemal wegen Volksverhetzung und der Verbreitung faschistischer Hetzschriften vor dem Hamburger Landgericht verantworten. Ihm wurde vorgeworfen, die Druckschrift »Der Sturm« herausgegeben zu haben, und er stand im Verdacht, Straftaten als Mitglied der neonazistischen Organisation »SA-Sturm 8. Mai« begangen zu haben, dazu gehörten Überfälle auf Lastwagen aus der DDR und ausländische Vertretungen.
Kühnen leitete damals auch die paramilitärische Ausbildung der »Aktionsfront Nationaler Sozialisten« auf dem Bauernhof des Leiters der neonazistischen »Wikingjugend« Rohwer. Rohwer selbst wurde wegen des Verdachtes des Bankraubs und des Überfalls auf ein Waffendepot einer niederländischen Einheit in Haft genommen. Bei einer Nazidemonstration in Lentföhrden forderte Kühnen die versammelten Neonazis auf, die Polizei »mit äußerster Entschlossenheit zurückzuschlagen«. Nach der heftigen Auseinandersetzung rühmte Kühnen die ANS als »Kampftruppe, die ihren Kampfstandard schon dadurch unter Beweis gestellt hat, daß die Polizei mehr Verletzte als die ANS registrieren mußte«.
Ein früherer Mitläufer Kühnens, Andreas Kirchmann, sagte 1979 im Kühnenprozeß aus, er habe bei Gesprächen der Nazigruppe erfahren, daß es zu Kühnens Konzept gehörte, durch eine Serie von Bombenanschlägen eine Atmosphäre der Unsicherheit in der Bundesrepublik hervorzurufen. Damit hätten die Neonazis den Übergang zur nationalsozialistischen Diktatur vorbereiten wollen. Im Juli 1979 gab Kühnen vor dem Gericht in Bückeburg zu, bei einem Führungstreffen seiner Organisation selbst eine Bombe
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